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Reformeifer: Die Türken und der Stolz

In Ankara wird über die Meinungsfreiheit gestritten. Der Paragraf 301 des türkischen Strafgesetzbuches verbietet die "Beleidigung des Türkentums". Die Höchststrafe soll aber nun herabgesetzt werden.

Schon seit langem warten die Europäische Union und das Reformlager in der Türkei auf eine Revision des berüchtigten „Türkentum-Paragrafen“ 301 des Strafgesetzbuches. Jetzt will die Regierung handeln, das Gesetz ändern und der EU ihren neuen Reformeifer vorführen. Doch hinter den Kulissen in Ankara rappelt es gewaltig. Der nationalistische Flügel der Regierungspartei AKP von Premier Recep Tayyip Erdogan sträubt sich gegen die Reform.

Der Paragraf 301 verbietet die „Beleidigung des Türkentums“ und war in den vergangenen Jahren von nationalistischen Juristen benutzt worden, um unliebsame Äußerungen zu sensiblen Themen gerichtlich zu verfolgen. Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk kam wegen öffentlich geäußerter Kritik am Umgang der Türken mit den Massakern an Armeniern im Ersten Weltkrieg vor den Kadi. Der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink wurde wegen ähnlicher Äußerungen sogar verurteilt – und wenig später ermordet.

Auch wenn die meisten Strafverfahren nach dem „Türkentum“-Gesetz eingestellt wurden, schränkt die ständige Drohung mit Gerichtsverfahren die Meinungsfreiheit im EU-Beitrittsbewerberland ein. In der EU ist der Paragraf zu einem Symbol für reformfeindliche Tendenzen in der Türkei geworden. Die Erdogan-Regierung sieht zwar den außenpolitischen Schaden, konnte sich aber lange nicht zu einer Reform durchringen; insbesondere im Wahljahr 2007 wollte Erdogan die Nationalisten nicht verärgern.

Nun hat Erdogans Kabinett jedoch eine neue Reformwelle angekündigt, und die Novellierung des „301“ soll den Anfang machen. Nach Presseberichten bemüht sich die Regierung, die Änderung bis zum Todestag von Dink am 19. Januar unter Dach und Fach zu bekommen.

Justizminister Mehmet Ali Sahin will den vagen Begriff des „Türkentums“ in dem Gesetz durch die „türkische Nation“ ersetzen. Zudem soll die Höchststrafe von drei auf zwei Jahre reduziert werden, was bedeutet, dass Haftstrafen auf Bewährung ausgesetzt werden kann: Die Türkei will das Image eines Landes loswerden, in dem man wegen einer Meinungsäußerung im Gefängnis landen kann. Außerdem will Sahin, dass Verfahren nach dem Paragrafen 301 nur noch mit Genehmigung seines Ministeriums eingeleitet werden dürfen. Damit sollen nationalistische Staatsanwälte ausgebremst werden.

Doch Sahins Vorschläge sind in der Regierung umstritten. Sein Vorgänger Cemil Cicek, inzwischen Vizepremier und Wortführer der Nationalisten in der Erdogan-Regierung, nahm in internen Beratungen diese Woche gegen Sahins Pläne Stellung, berichteten mehrere Zeitungen. Erdogan hält mit seiner eigenen Haltung bisher hinter dem Berg. Allerdings demütigte er Sahin, indem er öffentlich der Aussage des Justizministers widersprach, der Gesetzentwurf sei fertig. Statt in dieser Woche, wie von Sahin angekündigt, soll die Gesetzesänderung jetzt erst kommende Woche ins Parlament kommen.

Während die Regierung streitet, fordern türkische Reformanhänger, der Paragraf 301 müsse nicht nur geändert, sondern ersatzlos gestrichen werden. So kritisierte der liberale Rechtsprofessor Ibrahim Kaboglu, die von Sahin vorgesehene Reduzierung der Höchststrafe sei reine Augenwischerei. „Die klügste Lösung wäre es, das Gesetz ganz abzuschaffen.“ Doch so weit will in Erdogans Regierung niemand gehen. 

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