zum Hauptinhalt
Europawahl - Wahlparty SPD

© dpa

Reportage: Tränen, Trotz und tiefe Täler

Eigentlich, dachten sie bei der SPD, haben wir doch alles richtig gemacht: Einigkeit gezeigt, Kraft zum Krisenmanagement bewiesen. Und jetzt diese verheerende Niederlage. Am bittersten daran ist, dass niemand mit ihr gerechnet hat.

Von

Der jungen Genossin schießt das Wasser in die Augen, sie schlägt die Hände vors Gesicht. Es ist kurz nach 18 Uhr, die ARD hat gerade ihre Prognose gesendet. Der rote Balken ist einfach stehen geblieben. Die SPD hat im Willy-Brandt-Haus schon viele bittere Wahlabende durchgestanden, aber das hier ist etwas anderes. 21 Prozent, das schlechteste Ergebnis, das die SPD bei einer bundesweiten Wahl je kassiert hat, und das knapp vier Monate vor der Bundestagswahl – „eine Katastrophe“, sagt der Berliner SPD-Landesvorsitzende Michael Müller. Und Frank-Walter Steinmeier muss sich in diesem Moment fühlen wie einer, der aufs Zehnmeterbrett gestiegen ist, und oben hat ihm ohne jede Ankündigung einer einen Mühlstein an den Hals gehängt.

Die Niederlage zieht die SPD und ihren Kanzlerkandidaten auch deshalb so nach unten, weil niemand damit gerechnet hatte. Im Gegenteil. Die Europa-Wahl sollte zum Auftakt ihrer Aufholjagd werden. Dabei hatten die Genossen die Latte nicht mal sonderlich hoch gelegt. Das Kalkül der Sozialdemokraten und ihres Wahlkampfmanagers Kajo Wasserhövel ging in etwa so: 2004 hatte die Union ein Rekordergebnis von 44,5 Prozent gegen die wankende Schröder-SPD erzielt. Das würde sich nicht wiederholen. Die SPD war damals in einem Rekordtief von 21,5 Prozent versunken. Das würde sich auch nicht wiederholen.

Jeder Prozentpunkt mehr hätte also heute als Beleg für einen Sieg getaugt. „Erfolg ist, wenn der rote Balken hoch geht, und der schwarze Balken runter“, erklärte SPD-Chef Franz Müntefering in den Wochen vor der Wahl. Alles ganz einfach, gewissermaßen automatisch. Sogar Angela Merkel hat ja an diese Automatik geglaubt. Noch am Samstag hat die CDU-Chefin ihre Partei auf Einbußen vorbereitet, sicherheitshalber.

Als Franz Müntefering am Sonntagabend mit dem SPD-Spitzenkandidaten zur Europawahl Martin Schulz vor die Genossen im Willy-Brandt-Haus tritt, werden beide von trotzigem Beifall empfangen. Aber die Niederlage lässt sich nicht wegklatschen. „Das Ergebnis ist enttäuschend, keine Frage“, sagt der SPD-Chef. Und: „Wir bedanken uns für den Mut, den ihr uns macht. Meistens müssen wir es ja umgekehrt machen.“

Klingt da etwa Ratlosigkeit durch? Auf die Frage nach den tieferen Ursachen dieser Niederlage hat sich die SPD-Führung schon am späten Nachmittag eine Erklärung zurechtgelegt. Müntefering, Schulz und Steinmeier führen das Ergebnis auf die mangelnden Mobilisierung der sozialdemokratischen Wählerschaft und die geringe Wahlbeteiligung zurück. Das ist mathematisch sicher alles richtig, hilft aber nicht weiter. Es hilft vor allem nicht aus dem Tal heraus, in dem man da plötzlich gelandet ist.

Dabei hat die SPD in ihrer eigenen Wahrnehmung seit Monaten alles richtig gemacht. Sie hat sich ausnahmsweise mal nicht in Flügel zerlegt, sie hat nicht mit sich selbst gehadert, sie fühlte sich im Gegenteil seit langem einmal wieder ganz bei sich selbst. Die Partei, die sich so lange mit der Agenda 2010 und den Folgen herumgeplagt hat – sie hat sich in der Krise wieder mit sich versöhnt. Die Vertreterin der Arbeitnehmerinteressen, untergehakt mit den Gewerkschaften, der Kanzlerkandidat als staatsmännischer Lieferant der Blaupause für die Rettung von Opel und demnächst Arcandor und der Parteivorsitzende als bonmot-verdächtiger Zuchtmeister des Koalitionspartners CDU und der Kanzlerin – das alles bot Anlass zu den schönsten Hoffnungen. Bis zum Sonntagabend.

Drüben bei der CDU können sie ihr Glück so richtig gar nicht fassen. CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla steht auf der Tribüne im Konrad-Adenauer-Haus mit einem Gesichtsausdruck, als ob eher er die Wahl verloren hätte. Wahrscheinlich haben sie oben die Parole ausgegeben: Kein Triumphgeschrei! Das hat mit der Schnellanalyse zu tun, mit der Merkel und ihre Truppen sich das Ergebnis erklären: Die Leute haben, lautet diese Sichtweise, alles in allem diejenigen belohnt, die ohne große Gesten besonnen durch die Krise steuern. „Wir freuen uns über das Ergebnis“, sagt Pofalla. Die Jungunionisten in der ersten Reihe brechen programmgemäß in Applaus aus. „Wir liegen heute 17 Punkte vor der SPD“, sagt Pofalla. Die Jungunionisten applaudieren erneut. „Es gibt eine klare bürgerliche Mehrheit von Union und FDP in Deutschland“, sagt Pofalla. Die Jungunionisten beweisen durch anhaltenden Applaus gewisse Rechenschwäche, weil, für Schwarz-Gelb reichen die Ergebnisse von Union und FDP zusammen gerade eben nicht aus.

Aber weit davon entfernt sind sie nicht. Und so nimmt Pofalla an diesem Abend eine Zahl in den Mund, die im Adenauer-Haus seit dem Beinahe-Debakel der Bundestagswahl von 2005 absolut tabu war. „Es fehlen noch ganze zwei Prozentpunkte zu 40 Prozent“, sagt Merkels General. Die CDU hat insgeheim seit langem nicht mehr daran geglaubt, dass sie diese Marke überspringen kann. Seit diesem Sonntag wagen sie zu träumen.

Das hängt auch mit den Nachrichten aus dem Süden zusammen. In München tritt ein Horst Seehofer vor die Kameras, der sich womöglich noch bescheidener präsentiert als die große Berliner Schwester: „Ich darf heute vermelden: Die Christlich-Soziale Union ist wieder da.“ Sie ist es in einem Maße, wie es auch sehr kühne Christsoziale vorher nicht erwartet hatten: Sicher drin im europäischen Parlament, keine Rede mehr von Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde – vor allem aber: Fast, bis auf wenige Zehntel, wieder bei den magischen 50 Prozent! „Das war meine erste Bewährungsprobe“, sagt Seehofer, „und es war eine Bewährungsprobe für die neue CSU.“ Und dass das aber trotzdem noch kein Zeichen für die Bundestagswahl sei, sondern dass man noch viel werde arbeiten müssen.

Im Adenauer-Haus steht genau zu diesem Zeitpunkt der Unionsfraktionschef Volker Kauder vor einer Kamera. Die CSU habe sich berappelt, sagt Kauder. Das werde gewiss dazu führen, dass die gute Zusammenarbeit von den Christsozialen in Zukunft noch viel „ruhiger, sicherer und gelassener“ angegangen werde als bisher. Er kann das nur als Appell gemeint haben. Die gute Zusammenarbeit hat in den letzten Monaten ja überwiegend so ausgesehen, dass Seehofer die CDU getrietzt hat. Ob er damit weitermacht, weil es ja Erfolg gebracht hat, oder ob er aufhört, weil es ja Erfolg gebracht hat, ist eine offene Frage.

Doch sie zählt zu denen, die an diesem Abend nicht so wichtig sind. Dass sich die Grünen freuen darüber, dass sie nach den Hochrechnungen um ein paar Zehntel vor der FDP liegen – geschenkt: Das hatte keiner anders erwartet. Bei der FDP ist es dafür ab jetzt wieder egal, ob Silvana Koch-Mehrin im Europaparlament ihren Job macht oder, so der Vorwurf seit einer Woche, überwiegend schwänzt. „Danke, danke und nochmal danke“, jauchzt die FDP-Spitzenkandidatin in die Mikrofone. Ihr Parteichef Guido Westerwelle schmettert gar „Freude schöner Götterfunken!“ Elf Prozent ist fast doppelt so viel wie 2004. Trotzdem, so stolz wie Westerwelle glauben machen will, ist das Ergebnis nicht. In den Umfragen werden die Liberalen seit Wochen als Krisengewinnler geführt mit Werten um die 14, 15, 16 Prozent.

Und noch eine Truppe muss sich an diesem Abend fragen, ob sie nicht demoskopisch eher überbewertet ist. Zehn plus x hatte Linkspartei-Geschäftsführer Dietmar Bartsch als Wahlziel ausgegeben. Gerade sieben sind geblieben. In der Kulturbrauerei am Prenzlauer Berg steht Enttäuschung auf den Gesichtern. Das schlechte Abschneiden der SPD tröstet nicht, im Gegenteil: Der Einbruch des einzigen potenziellen Verbündeten sei die „eigentliche Katastrophe“, sagte einer. Desaströs und erschreckend nennt Gregor Gysi den Einbruch der Sozialdemokraten. Dass Linke von der Krise so gar nicht profitieren!

Aber was sollen sie denn noch tun, die Sozialdemokraten? Bei der CDU sagen manche, die hätten sich halt nicht so als Retter von allem und jedem in die Brust werfen sollen, erst Opel, jetzt Arcandor, so was fänden die Leute nämlich gar nicht so toll. Das mag sogar sein. Aber der Kanzlerkandidat Steinmeier hat vermutlich genau so recht, wenn er sagt: „Wenn die Rettung von Opel schief gegangen wäre, wäre die Unzufriedenheit bei den Wählern größer.“ Das ist das Vertrackte am Wähler, dass er kompliziert ist und nicht immer nur logisch. „Wir haben jetzt noch 112 Tage, dann ist Bundestagswahl“, sagt Franz Müntefering am Ende seiner kurzen Ansprache im Willy-Brandt-Haus. Für die SPD werde es jetzt darauf ankommen, unbeirrt ihren Weg zu gehen, ohne sich von dem Wahlergebnis beeindrucken zu lassen. Dass das geht, glaubt allerdings nicht mal Münteferings Kandidat. „Ein solches Wahlergebnis kann man nicht so einfach wegstecken“, sagt Steinmeier später am Abend bei Anne Will.

Mitarbeit: Matthias Meisner, Hans Monath, Antje Sirleschtov

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false