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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat zwar den Ausnahmezustand aufgehoben, zu einem Rechtsstaat wird die Türkei dadurch aber nicht.

© Umit Bektas/REUTERS

Beziehungen zur Türkei: Stabilisierung auf einem niedrigen Niveau

Die Europäische Union muss eine neue Basis im Verhältnis zur Türkei suchen – ehe es einen Rückfall gibt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Susanne Güsten

Das Ende des Ausnahmezustands macht aus der Türkei kein demokratisches Land. Doch die Entschärfung der Reisehinweise durch die Bundesregierung signalisiert unmissverständlich, dass Berlin bereit ist, in den Beziehungen zu Ankara einen Schlussstrich unter die Serie von Krisen der vergangenen Jahre zu ziehen. Der Grundsatzbeschluss zur Normalisierung des ebenfalls stark belasteten Verhältnisses zwischen den Niederlanden und der Türkei macht deutlich, dass auch andere europäische Länder zur Neubewertung bereit sind.

Es ist eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau. Mehr ist auf absehbare Zeit nicht drin. Zudem sind die schweren Differenzen zwischen beiden Seiten nicht ausgeräumt, sondern lediglich in den Hintergrund geschoben worden. Immerhin aber ist die Abwesenheit von Streit etwas, das in den türkisch-europäischen Beziehungen zuletzt unerreichbar erschien.

Jetzt gibt es zumindest die Chance, vernünftig miteinander zu reden. Dabei kann es nicht um große Ziele wie den türkischen EU-Beitritt gehen; das Thema hat sich wegen des Demokratie-Abbaus in Ankara und des Widerstands in Europa gegen die türkische Bewerbung erst einmal erledigt. Nun aber, da in Deutschland wie in der Türkei die Wahlen vorbei sind und beide Seiten einander brauchen, sollten die Regierungen ein Interesse an einem rationalen Umgang miteinander haben. Nach zwei Jahren Dauer-Debakel.

Mittelfristig braucht das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei eine neue Grundlage. Niemand glaubt noch an den Sinn der theoretisch immer noch laufenden Beitrittsverhandlungen. Das Nachdenken über Alternativen hat zwar begonnen, bisher allerdings keine Lösungen produziert. Zu den diskutierten Möglichkeiten gehört ein Ausbau der derzeitigen Zollunion zu einem breit angelegten Freihandelsabkommen, das die Frage einer späteren EU-Mitgliedschaft der Türkei offenlässt.

Der frühere Bundesminister Sigmar Gabriel brachte Ende des vorigen Jahres ein „kluges“ Brexit-Abkommen mit Großbritannien als Modell einer zukünftigen Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei ins Gespräch. Das Problem ist freilich, dass die Brexit- Verhandlungen gute acht Monate vor dem Ausscheiden der Briten aus der EU nicht von der Stelle kommen. Von Gabriels „klugem“ Brexit-Deal und einem Modell für die Türkei ist nichts zu sehen.

Trotzdem sollten Europäer und Türken weiter nach einer neuen Basis für ihre Beziehungen suchen. Ein politisches Klima, das erstmals seit Jahren nicht mehr von schweren gegenseitigen Vorwürfen vergiftet wird, bietet die Gelegenheit dazu. Die Zeit drängt. Die jetzt eingeleitete vorsichtige Verbesserung der Beziehungen ist störanfällig. Schon bald könnten neue Irritationen auftauchen, beispielweise durch neue drakonische Anti-Terrorgesetze in der Türkei, wie sie derzeit geplant sind. Ein Rückfall in die Krisenzeiten der vergangenen Jahre ist jederzeit möglich.

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