zum Hauptinhalt

Türkei: Der Widerstand der Eren Keskin

Haben Sie das so gesagt?, fragt der Richter von der hohen Bank hinunter. Ja, im Wesentlichen habe ich das so gesagt, sagt die zierliche Frau, die vor ihm steht. Es ist meine Überzeugung, dass das Militär die Demokratisierung der Türkei behindert! Nur 15 Minuten später steht es fest: Die türkische Bürgerrechtlerin Eren Keskin bekommt sechs Monate und 20 Tage Gefängnis. Für eine Meinung.

In der Türkei kritisiert eine Frau, dass das Militär zu viel Einfluss auf Justiz und Politik habe. Das Militär verlangt von der Justiz, die Frau dafür zu verurteilen. Die Justiz verurteilt die Frau für ihre Ansicht, dass das Militär zu viel Einfluss auf Justiz und Politik hat. Das ist die Kurzfassung einer Geschichte, die wie ein Blitzlicht die sonst tief im Schatten liegenden Machtstrukturen der Türkei erhellt. Deshalb lohnt es sich, sie ausführlicher zu erzählten. In der Türkei kritisiert eine Frau, dass das Militär zu viel Einfluss auf Justiz und Politik habe.

Das Militär verlangt von der Justiz, die Frau dafür zu verurteilen.

Die Justiz verurteilt die Frau für ihre Ansicht, dass das Militär zu viel Einfluss auf Justiz und Politik hat.

Das ist die Kurzfassung einer Geschichte, die wie ein Blitzlicht die sonst tief im Schatten liegenden Machtstrukturen der Türkei erhellt. Deshalb lohnt es sich, sie ausführlicher zu erzählten.

Natürlich endet die Geschichte nicht mit diesem Urteil. Der Generalstab der türkischen Armee ist noch nicht fertig mit Eren Keskin, Rechtsanwältin und Bürgerrechtlerin aus Istanbul mit dem wilden Haar einer Zigeunerkönigin, 48, geschieden, keine Kinder. Und begonnen hat die Geschichte auch schon viel früher, wenn es auch schwierig ist, den Beginn genau zu fixieren. Begann sie mit dem Interview, das Eren Keskin dem „Tagesspiegel“ im Juni 2006 gab und in dem sie die Macht des Militärs im Staat beklagte? Begann sie mit dem Militärputsch von 1980? Oder begann sie schon mit der Gründung der Türkischen Republik durch einen General der türkischen Armee vor 85 Jahren?

Das vorläufig letzte Kapitel dieser Geschichte spielt sich jedenfalls am kühlen und bewölkten Donnerstagvormittag ab, in Kartal, einem entlegenen Stadtviertel im asiatischen Teil von Istanbul. Im Verhandlungsraum des 3. Amtsgerichts von Kartal wird der Fall Keskin aufgerufen. Nüchtern fragt der Richter die Personalien ab, während die Prozessteilnehmer Platz nehmen in dem kleinen Raum. Viele sind nicht gekommen. Richter, Gerichtsschreiberin, Saaldiener. Kein Anwalt, denn Keskin hat ihre Verteidigung selbst übernommen hat. Im Zuschauerraum sitzen einige Unterstützerinnen und zwei deutsche Reporterinnen. Im letzten Moment stürmt noch atemlos eine deutsche Vertreterin von Amnesty International herein; sie hat das Gericht erst nach langer Irrfahrt gefunden.

Auch das einzige Kamerateam, das draußen vor dem Gericht wartet, stammt von einem deutschen Sender, dem ZDF. Für die türkischen Medien ist das, was sich hier abspielt, nichts Außergewöhnliches. Eine Militärkritikerin – oder vielmehr: Eren Keskin, denn viel mehr bekennende Militärkritiker gibt es hierzulande nicht – wird wegen ihrer Ansichten vor Gericht gestellt. Insgesamt 19 solche Verfahren sind bereits gegen Eren Keskin eröffnet worden. Zählt man die Prozesse aus ihrer Zeit als Istanbuler Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD mit, dann sind es sogar über 30 Verfahren und Anklagen. Sechs Monate hat sie schon im Gefängnis gesessen für ihre Ansichten, drei weitere Verurteilungen sind derzeit beim Obersten Berufungsgericht anhängig.

In grauen Jeans mit grün-grau-gestreiftem T-Shirt und brauner Weste steht Eren Keskin an dem hüfthohen Geländer, der im Gerichtssaal den Platz des Angeklagten markiert. Die schwarzen Haare sind hochgesteckt und leicht toupiert, ihr Gesicht ist wie immer sorgfältig geschminkt. Zerbrechlich wirkt die zierliche Frau, wie sie da alleine vor der hohen Richterbank steht. Von seinem Pult herab verliest Richter Latif Kadir Kaya die Vorwürfe. Vor allem: Herabwürdigung des türkischen Militärs nach Paragraph 301. Der berüchtigte Türkentum-Paragraph. Mit ihm wurden schon der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und viele andere Schriftsteller, Journalisten und Intellektuelle vor Gericht gestellt. Bis zu drei Jahre Haft erlaubt dieser Paragraph. Seit seiner Einführung vor drei Jahren wird er von der Justiz zur Verfolgung jeder Art von Kritik am Kemalismus gebraucht – obwohl in Abschnitt 4 festgeschrieben ist, dass Meinungsäußerungen mit dem Ziel der Kritik von der Bestrafung ausgenommen sind. Schon seit Inkrafttreten fordern türkische Menschenrechtler ebenso wie die Europäische Union seine Abschaffung oder zumindest Änderung.

Im Prozess gegen Eren Keskin wirkt sich das europäische Interesse an der Türkei aber erst einmal kontraproduktiv aus. Strafverschärfung um ein Drittel sieht Absatz 3 des Paragraphen vor, wenn die Kritik im Ausland geäußert worden ist – so wie von Keskin im „Tagesspiegel“. In dem Interview, das am 24. Juni 2006 erschienen war, hatte sie gesagt: „In der Innen- wie in der Außenpolitik wird alles von der Armee bestimmt.“ Bis heute habe es keine einzige Zivilregierung vermocht, ihr Regierungsprogramm umzusetzen.

Zweieinhalb Wochen später hatte der Generalstab der türkischen Armee in Ankara eine Strafanzeige gegen Keskin beim Justizministerium eingereicht. Tagesbefehl an Justiz und Politik: Maul stopfen!

Entsprechend kurz ist der Prozess an diesem grauen Morgen in Kartal. „Haben Sie das so gesagt?“, fragt Richter Kaya zur Angeklagten herunter, nachdem er eine Rückübersetzung des „Tagesspiegel“-Interviews eilig und halblaut murmelnd vorgelesen hat. „Es mag kleine Abweichungen bei der Übersetzung geben, aber im Wesentlichen habe ich das so gesagt“, erwidert Keskin mit klarer Stimme. Und sie fährt fort: „Es ist meine Überzeugung, dass das Militär die Demokratisierung der Türkei behindert. Ich bin der Ansicht, dass das Militär zu großen Einfluss auf die Justiz und Politik der Türkei ausübt und dass es sich daraus zurückziehen sollte. Ich habe damit nicht die Armee herabwürdigen, sondern meine politische Meinung äußern wollen. Ich bin der Überzeugung, dass das keine Straftat sein kann.“

Dann ist der Prozess auch schon fast vorbei. Der Richter liest nur noch ein Schreiben des Generalstabes vor, in dem dieser seinen Verzicht auf Teilnahme an dem Verfahren mitteilt. Nach kaum mehr als einer Viertelstunde steht Keskin schon wieder draußen auf dem Flur. Das Urteil: sechs Monate und 20 Tage Gefängnis, umwandelbar in eine Geldstrafe von 4000 Lira. Für die Anwältin sind das zwei Monatsgehälter.

Unter dem verhangenen Himmel vor dem Gerichtsgebäude atmet Keskin erst einmal tief durch. Dass es so schnell gehen würde, damit hat sie nicht gerechnet. „Das Urteil stand offenbar schon vorher fest“, sagt sie. „Das zeigt doch, wie stark die Justiz dem Militär verpflichtet ist.“ Sie ist sichtlich bemüht, die Fassung zu bewahren, sie hat ihren Stolz. Sie hat niemanden angerufen vor dieser Verhandlung, keine Presseerklärung herausgegeben und niemanden um Hilfe gebeten; das macht sie nie. Für ihre Ansichten steht sie selbst ein.

Trotzdem fällt es Eren Keskin schwer, ruhig zu bleiben an diesem Morgen im kühlen Wind, der vom Marmara-Meer her über die Stadt zieht. Denn dies ist nicht einfach irgendein weiteres Urteil gewesen, dies ist kein Spiel, das man immer weiter spielen kann. Ins Gefängnis muss sie vorläufig zwar nicht, auch wenn sie die Geldstrafe nicht bezahlen wird: „Die Meinungsfreiheit ist nicht käuflich, und außerdem habe ich das Geld sowieso nicht.“ Bis zur Entscheidung der Berufungsinstanz bleibt sie auf freiem Fuß. Aber selbst bei der Gefängnisstrafe wird der Generalstab es diesmal nicht bewenden lassen, er hat bei der Istanbuler Anwaltskammer zusätzlich ein Disziplinarverfahren gegen Keskin durchgesetzt. Dann geht es Keskin an die Existenz. Ob es ein befristetes Berufsverbot sein wird oder ein lebenslanges, das ist noch offen – der Vorsitzende der Kammer erwidert die Anfrage vom „Tagesspiegel“ nicht. Aber dass die Lizenz bald eingezogen wird, damit muss Eren Keskin auf jeden Fall rechnen.

Wer die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Anwältin kennt, der kann ermessen, was das bedeutet. Enge und dunkle Treppen muss man hochsteigen in einem alten Wohnblock in einer Istanbuler Innenstadtgasse, um zu Eren Keskins Anwaltsbüro zu gelangen. Sie ist in einer dunklen Wohnung mit abgewetzten Teppichen untergebracht. Kein Aufzug, kein Empfang. Nicht einmal eine Sekretärin gibt es in der Kanzlei, die sie mit einer Kollegin teilt. Die Möbel sehen aus, als kämen sie vom Sperrmüll; die beiden Anwältinnen kochen ihren Tee selbst. Eren Keskin betreut Fälle, in denen es um Menschenrechte geht. 1997 hat sie zum Beispiel vor allem für kurdische Frauen, die von Sicherheitskräften missbraucht wurden, ein Rechtshilfeprojekt gegründet. Sie hat für ihr Engagement den Aachener Friedenspreis und den Theodor-Haecker Preis für politischen Mut und Aufrichtigkeit der Stadt Esslingen bekommen – aber auch viele Morddrohungen. Immerhin hat sie sich mit ihrer Kanzlei über Wasser halten können. Wenn ihr die Lizenz genommen wird, dann steht sie vor dem Nichts.

Das ist der Preis der Kritik am türkischen Militär, sagt Eren Keskin draußen vor dem Gericht in Kartal: „Die nehmen dir dein ganzes Leben.“ Aber was sie daran ändern soll, was sie nun noch machen kann, das weiß sie nicht. Erste Regentropfen fallen vom Himmel. Eren Keskin versucht einen Scherz. „Ich kann ja noch Sängerin werden“, sagt sie mit einem schiefen Lächeln. „Ich habe eine schöne Stimme.“ Schade nur, dass sie wohl selbst auf dieser Laufbahn nicht weit käme als Militärkritikerin: Als die wohl populärste Schlagersängerin der Türkei, die transsexuelle Diva Bülent Ersoy, vor ein paar Wochen öffentlich sagte, dass sie ihren Sohn von der Armee nicht im PKK-Krieg verheizen lassen würde, da hatte ihr das sofort ein Ermittlungsverfahren eingebracht. Sie habe „einen Keil zwischen Armee und Volk getrieben“. Dass Bülent Ersoy nicht einmal einen Sohn hat, nützte ihr nichts. Die Rundfunkaufsichtbehörde verwarnte den Fernsehsender, der ihre Show ausstrahlt.

Eren Keskin hat Bülent Ersoy damals unterstützt, hat eine Unterschriftensammlung für sie organisiert. Die Sängerin habe nur eine menschliche Haltung zum Ausdruck gebracht, sagte Keskin. Viele Türken seien derselben Ansicht, wagten aber nicht, es offen auszusprechen.

Das ist so. Man sieht es oft, wenn Eren Keskin öffentlich auftritt und plötzlich die Rolle des Katalysators übernimmt – etwa, als sich im vergangenen Jahr viele bekannte Künstler und Intellektuelle in einem Theater trafen, um des 40 Tage zuvor ermordeten Demokraten Hrant Dink zu gedenken. Ein Redner nach dem anderen trat auf, um wütend, aber abstrakt die „dunklen Kräfte“ und die „verborgenen Mächte“ zu verwünschen, die für den Terror gegen Andersdenkende verantwortlich seien. Bis Eren Keskin auf die Bühne trat und sinngemäß Folgendes sagte: Jeder wisse doch, dass sich in der Türkei nichts rege, wenn es das Militär nicht wolle. Tosender Applaus kam aus der Dunkelheit des Zuschauerraums – aber den Mut, das im Scheinwerferlicht zu sagen, hatte nur Eren Keskin.

Nun wird sie mehr brauchen, als stillschweigendes Einverständnis. Als ihr die nationale Anwaltskammer vor drei Jahren wegen kritischer Äußerungen schon einmal ein einjähriges Berufsverbot erteilt hatte, da waren Kolleginnen eingesprungen und hatten ihre Mandanten übernommen. Nun aber steht sie nicht nur vor einer Gefängnisstrafe, wenn ihre Berufung verworfen wird. Vielleicht muss sie ihre Kanzlei dann ganz schließen. Einige Kollegen haben eine Unterschriftensammlung gestartet, um die Anwaltskammer davon abzuhalten. Auch internationale Öffentlichkeit könnte helfen, sagt Eren Keskin. Trotzdem steigen ihr vor dem Amtsgericht die Tränen in die Augen, als sie sich abwendet und geht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false