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Türkei: Die Mär vom Paulinenhof

Nur noch eine protestantische Familie lebt im "deutschen Dorf" in der Osttürkei – und kämpft ums Überleben.

Ein steiniger Feldweg führt in das Dorf im äußersten Osten der Türkei, nahe der Grenze zu Armenien. Staubige Enten watscheln zwischen ärmlichen Steinhütten herum, deren Dächer mit Erde und Gras gedeckt sind. Eine Bäuerin im Kopftuch zieht ein mageres Pferd am Strick. „Die Deutschen?“, sagt sie und zeigt auf eine Hütte. „Da leben noch welche.“ Der Mann, der sich aus der niedrigen Türe duckt, heißt tatsächlich August und hat blaue Augen, die von Schmerzen und Verzweiflung getrübt sind. „Wir sind der letzte Stein in einer alten Burg“, sagt August Albuk von seiner Familie, den letzten Angehörigen der deutschen Minderheit von Kars. „Nun bröckelt auch dieser letzte Stein.“

Paulinenhof hieß das Dorf in der nordosttürkischen Provinz Kars früher. Deutsche Siedler gründeten es 1892, als Kars vorübergehend zum russischen Reich gehörte. Sie kamen aus Estland und stammten aus der dortigen deutschen Minderheit, den sogenannten Baltendeutschen. Warum sie kamen, ob sie sich freiwillig in Kars niederließen , ob sie als Handwerker kamen oder als Bauern, das wissen August und sein Bruder Petro nicht so genau. Einig sind sie sich mit Historikern aber, dass ihr Dorf auch nach Gründung der Türkischen Republik noch hunderte Einwohner deutscher Abstammung zählte – bis die meisten in den 1970er Jahren nach Deutschland auswanderten.

Nur Frederik Albuk, der Vater von August und Petro, entschied sich zum Bleiben. „Dies ist unsere Heimat“, habe er gesagt, so erinnert sich seine russischstämmige Witwe Olga. „Hier sind wir geboren und aufgewachsen, hier haben wir gelebt und geliebt, hier will ich auch sterben.“ So verwurzelt fühlte sich Frederik im türkischen Boden, dass er seinen Kindern die deutsche Sprache nicht weitergab. Seit er seinen letzten Willen bekam und 1997 auf dem Dorffriedhof beigesetzt wurde, bindet nur der protestantische Glauben seine beiden Söhne und deren zwei Kinder – ein neunjähriges Mädchen und einen sechs Monate alter Junge – noch an ihr Schicksal als die letzten Deutschen von Paulinenhof.

Karacaören heißt das Dorf heute offiziell; das ist Türkisch und bedeutet „schwarze Ruinen“. Anstelle der abgewanderten Deutschen haben sich alewitische Turkmenen aus den umliegenden Bergen im Dorf niedergelassen – so viele, dass Karacaören heute in Wirklichkeit ein turkmenisches Dorf ist, das nur noch nominell als „deutsches Dorf“ durch die Propaganda von der multikulturellen und toleranten Türkei geistert.

Zwar haben es die Albuks mit den neuen Nachbarn gut getroffen, sind die Alewiten doch liberaler und toleranter als viele Anhänger des sunnitischen Islam – als „wunderbare Menschen“, mit denen es sich leicht zusammenlebe, preist Albuk sie. Die Kirche der Deutschen wurde von den Behörden aber schon vor Jahrzehnten zur Dorfschule umfunktioniert und inzwischen ganz geschlossen. Ihre Gottesdienste feiert die protestantische Familie sonntags alleine in ihrer Hütte unter einem bunten Wandteppich mit dem Antlitz von Jesus Christus. „Für eine einzige Familie kann man ja keine Kirche unterhalten“, winkt August ab, der seine Kinder selbst getauft hat. Auch bei Beerdigungen gehen die deutschstämmigen Christen schon lange Kompromisse ein: Weil die Gräber auf ihrem Friedhof früher immer zerstört wurden, legen sie ihren Toten – zuletzt war das Frederik – das Kreuz mit ins Grab, statt es auf der Grabstätte aufzurichten.

Aller Anpassung zum Trotze droht den Nachkommen der deutschen Siedler nun dennoch das Aus in ihrer mehr als hundertjährigen Heimat. Nichts zu brechen und zu beißen haben die Brüder, seit August seinen Job als Schweißer im kommunalen Fuhrpark der nahen Stadt Kars verlor, als er am Magen operiert wurde. Wegen Fristversäumnis bei der Krankmeldung entlassen, sagt die Stadtverwaltung; von einem chauvinistischen Vorgesetzten illegal gefeuert, sagt August, dem das aber auch nichts nützt, weil er die vom Rechtsanwalt geforderte Anzahlung nicht aufbringen kann. Der 40-Jährige ist inzwischen bettlägerig, für seine Medikamente hat die Familie kein Geld. Sein Bruder Petro findet schon seit Jahren keine Arbeit, obwohl er sich überall bewirbt. Zwecklos, meint er: „Sobald der Arbeitgeber auf dem Personalausweis den Vermerk ,christlich‘ sieht, ist es vorbei.“

An Armut war die Familie schon lange gewöhnt, doch seit dem Verlust von Augusts bescheidenem Einkommen blickt sie in den Abgrund. Eine Zukunft in ihrer osttürkischen Heimat gebe es für sie wohl nicht mehr, sagt einer der Brüder. „Aber wir haben auch keinen Ort, an den wir gehen könnten.“

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