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Türkei: EU-Beitrittverhandlungen stehen auf dem Spiel

Das Verbotsverfahren gegen die türkische Regierungspartei AKP sorgt nicht nur für Unruhe innerhalb des Staates am Bosporus. Der Machtkampf zwischen kemalistischen Eliten und dem konservativen Lager gefährdet die Annäherung der Türkei an die EU.

Nach Eröffnung des Verbotsverfahrens gegen die türkische Regierungspartei AKP stehen die türkischen EU-Beitrittsverhandlungen auf dem Spiel. EU-Vertreter sprechen von einem politisch motivierten Prozess, der mit europäischen Standards nicht zu vereinbaren sei. Die bevorstehenden innenpolitischen Manöver – Premier Recep Tayyip Erdogan prüft eine rasche Verfassungsänderung, um seine Partei zu retten – dürften den Reformeifer in Ankara weiter dämpfen.

Der Prozess ist Teil des Machtkampfes zwischen den urbanen kemalistischen Eliten, die sich auf Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk berufen, und dem fromm- konservativen Lager unter Erdogan, das zahlenmäßig stärker ist und den Kemalisten die traditionelle Führungsrolle streitig macht. Einige Kemalisten machen aus ihrer Verachtung für die Religiösen aus der anatolischen Provinz keinen Hehl. Ein bekanntes Istanbuler Model, Aysun Kayaci, sorgte vor wenigen Tagen für Schlagzeilen, indem sie die AKP-Wähler im Fernsehen als „Pöbel“ bezeichnete und die Frage stellte: „Warum ist die Wählerstimme eines Hirten in den Bergen genauso viel wert wie meine?“

Joost Lagendijk, Kovorsitzender der türkisch-europäischen Parlamentarierkommission, sagte der Zeitung „Taraf“, weil die AKP bei den Wahlen des letzten Jahres mit knapp 47 Prozent triumphierte, solle nun das Wahlergebnis mit juristischen Mitteln aufgehoben werden. Im Falle eines Verbots der AKP werde der Abbruch der türkischen EU-Beitrittsgespräche auf die Tagesordnung kommen.

EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn sieht ebenfalls keinen Grund, die AKP zu verbieten, die in Brüssel als grundsätzlich europafreundliche Kraft geschätzt wird. Verbote seien nur gerechtfertigt, wenn eine Partei ihre Ziele mit Gewalt durchsetzen wolle, erklärte Rehn. Davon könne bei der AKP keine Rede sein.

Der Kolumnist Hasan Cemal schrieb in der Zeitung „Milliyet“, mit dem Verfahren habe eine „Phase des ,juristischen Staatsstreiches’ begonnen“. Dieser neue Abschnitt werde die politische und wirtschaftliche Stabilität des Landes erschüttern und „die Beziehungen zwischen Türkei und Europäischer Union vergiften“.

Statt sich um weitere Reformen in Politik und Wirtschaft zu kümmern, werden sich die Politiker in Ankara in den kommenden Monaten wahrscheinlich vor allem mit innenpolitischem Machtpoker befassen. Sollte Erdogan im Parlament eine Verfassungsänderung durchsetzen, will die kemalistische Oppositionspartei CHP, die bereits Verfassungsklage gegen die Freigabe des islamischen Kopftuches für Studentinnen eingereicht hat, erneut das Verfassungsgericht anrufen.

Erdogan selbst rief seine Anhänger zur Ruhe auf: „Wir gehen unseren Weg weiter“ – auch wenn zu befürchten ist, dass der in einer Sackgasse enden könnte.

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