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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Rede am 02. März 2020 in Ankara.

© AFP

Türkei-Krise: Die Eskalation muss verhindert werden - NATO auf dem Prüfstand

Eine internationale Flugverbotszone zur Vorbereitung einer humanitären Intervention ist nötig. Ein Gastbeitrag.

Oliver Rolofs ist Managing Partner der Münchner Strategieberatung connecting trust und Südosteuropa-Experte.

Europa und die NATO können nicht mehr so tun, als sei die Gewalt in Nordsyrien ein irritierendes Randproblem. Der neulich tödliche Angriff auf türkische Soldaten in der Provinz Idlib durch syrische Kampfflugzeuge – mit vermutlicher Unterstützung Russlands – riskiert, eine neue Eskalation in einem der hartnäckigsten Konflikte der Welt auszulösen.

Es stehen sich die Türkei, Syrien und Russland direkt gegenüber. Unterdessen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in einer verzweifelten Suche nach europäischer Unterstützung die Grenze für Migranten Richtung Europa geöffnet. Über 13.000 Flüchtlinge harren bereits auf der türkischen Seite der Grenze zu Griechenland bei Kälte aus. Die traurigen Bilder aus dem Jahr 2015 drohen sich zu wiederholen.

Wieder mit Erdogan ins Gespräch kommen

Die Verachtung des türkischen Präsidenten und die Angst vor dem Ende des mit der Türkei abgeschlossenen Flüchtlingsdeals hat die Europäer zuletzt dazu bewogen, bei Erdogans Kampf gegen die Kurden im eigenen Land und der militärischen Intervention auf syrischem Gebiet wegzuschauen.

Doch ist mittlerweile angesichts der dramatischen Lage an der Südostflanke der NATO und der erneut drohendenden Zuspitzung der Flüchtlingskrise ein Momentum erreicht, um mit Erdogan wieder ins Gespräch zu kommen? Die derzeitige Lage spricht – wohl oder übel – dafür.

Nicht mit dem Coronavirus ablenken

Es reicht nicht, zu sagen, die Verbreitung des Coronavirus und die Auswirkung auf das Wirtschaftswachstum würden momentan die volle Aufmerksamkeit der Politik erfordern. Es wäre fatal, zu ignorieren, dass es gleichzeitig eine enorme humanitäre Herausforderung an unseren europäischen Außengrenzen gibt.

Diese geopolitische Krise kann unsere europäische Sicherheitsarchitektur in ungeahntem Ausmaß ins Wanken bringen. Grund dafür ist eine dramatische sicherheitspolitische Schwäche der Europäer.

Die NATO muss sich beweisen

Die Entscheidungen und Erklärungen, welche die führenden Politiker der NATO in den kommenden Tagen und Wochen treffen, werden die Glaubwürdigkeit des Bündnisses auf die Probe stellen. Sie werden vor allem die Zukunft der NATO und die Rolle der Türkei innerhalb des Bündnisses prägen.

Wenn die NATO der Türkei und der Zivilbevölkerung in Idlib in ihrer Notlage nicht hilft, wird sich Ankara zurecht die Frage stellen, welchen Zweck und Wert das atlantische Bündnis noch erfüllt.

Türkische Regierung zurecht besorgt

Der Vorstoß von Präsident Erdogan, die Grenzen zu öffnen und Flüchtlinge als Druckmittel einzusetzen, mag moralisch verwerflich sein. Aber es sollte, wie es auch der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen formuliert hat, nicht in erster Linie als Provokation, sondern als Hilferuf Ankaras, das mit seiner Russland- und Syrien-Politik gescheitert ist, verstanden werden.

Die türkische Regierung ist zurecht besorgt, dass durch die verheerenden Kämpfe in Idlib noch mehr syrische Flüchtlinge auf türkisches Staatsgebiet drängen werden. Auch im neunten Jahr ihres Bestehens bleibt die humanitäre Krise in Syrien in ihrem Ausmaß und ihrer Komplexität beispiellos.

Die Türkei trägt mit über 3,7 Millionen syrischen Flüchtlingen die schwerste Last und die Verzweiflung Ankaras droht nun eine neue Flüchtlingswelle nach Europa auszulösen. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden seit dem Beginn der Offensive des syrischen Regimes im Dezember mehr als 900.000 Zivilisten - die meisten davon Frauen und Kinder - vertrieben.

Europa muss jetzt handeln

Es darf weder im Interesse Deutschlands, noch Europas liegen, dass die Türkei unter diesem Druck zerbricht. Für Europa ist die Stunde des Handelns gekommen, um Solidarität mit der Türkei zu zeigen und mittelfristig die Basis für einen syrischen Friedensprozess zu schaffen:

1. Es sollte eine Flugverbotszone über Idlib errichtet und damit der Grundstein für eine mögliche gemeinsame humanitäre Intervention der Europäischen Union und der NATO geschaffen werden, der in einer internationalen Schutzzone für Nordsyrien münden kann.

2. Auch ein größerer finanzieller Einsatz Europas und der Versuch, mit Ankara die Last zu teilen, würde die derzeitige humanitäre Situation der Flüchtlinge in der Türkei entschärfen. Das wäre kein europäisches „Nachgeben“ gegenüber Erdogan, sondern ein Beitrag im Interesse der EU, damit die Integration von Syrern in der Türkei auch funktioniert.

3. Die NATO sollte als sicherheitspolitisches Bündnis eine zurückhaltende, aber entschiedene Position einnehmen und gleichzeitig die regionalen Konfliktparteien, einschließlich Russland, an einen Tisch bringen. Das bevorstehende Treffen zwischen den Präsidenten Erdogan und Putin kann hier ein erster richtiger und deeskalierender Schritt sein.

4. Die Aufklärungssysteme der NATO sollten darauf ausgerichtet sein, jede Aggression eindeutig und transparent öffentlich zu machen. Ziel muss es sein, Russland in die volle Verantwortung mit einzubeziehen. Dazu ist ein intensiver Informationsaustausch notwendig. 

5. Hierbei muss die NATO klar definieren, welche Hauptakteure in diesem Konflikt mit welchen Interessen agieren. Dazu wird es notwendig sein, lokale Eskalationen auch mit militärischen Mitteln zu beenden. Diese Eskalationen werden häufig von paramilitärischen Milizen und Söldnern verübt, die oftmals aus Russland stammen. Die NATO sollte jedoch nicht direkt in den Krieg involviert werden, daher ist eine enge Abstimmung mit Moskau wichtig.

Trotz moralischer Abneigung einen kühlen Kopf bewahren

Gerade in langfristiger Hinsicht sollte eine moralische Abneigung gegenüber Erdogan und seiner autoritären Politik nicht das Urteilsvermögen beeinflussen. Es gibt zahlreiche Gründe, warum die Staats- und Regierungschefs von EU und NATO gut beraten sind, einen kühlen Kopf zu bewahren und gerade jetzt den Dialog mit Ankara zu vertiefen.

Dabei sollten sie nicht auf den kaum akzeptablen Ton des türkischen Staatschefs eingehen, sondern endlich den Problemen gerecht werden. Realistisch betrachtet muss es gerade im Interesse Europas liegen, einen stabilen Verbündeten an seiner Südostflanke zu haben. Durch die große Bevölkerungszahl sowie die wirtschaftliche und militärische Stärke ist die Türkei seit eh und je sowohl im Handel als auch in der Sicherheit ein wichtiger Partner.

Oliver Rolofs

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