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Eine Frau trauert in dem teilweise ausgebrannten Gewerkschaftsgebäude in Odessa, in dem am Freitag über 40 Menschen starben.

© dpa

Ukraine: Ein Land in Scherben

Die deutschen Geiseln sind frei. Doch darüber hinaus gibt es keine gute Nachrichten aus der Ukraine. Warum spitzt sich die Lage immer weiter zu?

Auch nach der Freilassung der OSZE-Geiseln beruhigt sich die Lage nicht – im Gegenteil. Es scheint kaum noch Gegenden in der Ukraine zu geben, in denen sich prorussische und prowestliche Kräfte keine Kämpfe liefern.

Wie ist die Lage in den Kampfgebieten?

Gerade in Odessa ist die Situation weiter sehr schwierig. Nach den Straßenschlachten und dem Brand in einem Gewerkschaftshaus, die am Wochenende für 42 Menschen den Tod bedeuteten, bleibt der Konflikt weiterhin gewalttätig. Prorussische Demonstranten stürmten am Sonntag ein Polizeirevier, und auf dem Platz vor dem am Freitag ausgebrannten Gewerkschaftshaus kam es erneut zu schweren Auseinandersetzungen zwischen prorussischen Demonstranten und der Polizei. Eine Gruppe von Männern hatte eine russische Fahne an das Gebäude angebracht, proukrainische Protestler wollten die Flagge entfernen. Dabei wurden mehrere Menschen teilweise schwer verletzt.

In der südukrainischen Stadt Mariupol hatten dagegen Rebellen am Samstagabend Feuer in der Innenstadt gelegt, Reifen und Fahrzeuge wurden angezündet. Auch ein Parteibüro der Regierungspartei wurde in Mariupol verwüstet. Etliche Geschäfte wie Banken, Juweliere, Autohändler und Pelzläden wurden geplündert. „Es herrscht die nackte Anarchie“, schreibt die Regionalausgabe der Zeitung Segodna. Offenbar wird die unsichere Lage auch von Kriminellen genutzt. Es scheint, als habe die Polizei in weiten Teilen der Regionen Donezk und Lugansk die Lage nicht mehr unter Kontrolle.

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In Lugansk stürmte am Samstagabend eine Gruppe Bewaffneter eine Rekrutierungsstelle für Wehrpflichtige und nahm Geiseln; die genaue Anzahl ist nicht bekannt. In der Stadt wurde auch ein Studentenwohnheim von Separatisten besetzt. Die Studierenden sind derzeit in den Ferien, das leere Gebäude wurde widerstandslos beschlagnahmt.

In Charkiw sind am Sonntagnachmittag trotz eines Demonstrationsverbots prorussische Protestler auf den Freiheitsplatz im Stadtzentrum gekommen. Rund 500 Menschen forderten die Aufklärung der Brandkatastrophe von Odessa. Die Stadt hatte die Bevölkerung ausdrücklich davor gewarnt, an Kundgebungen teilzunehmen, weil es zu Ausschreitungen kommen könnte.

Wie ist die Stimmung auf dem Maidan in Kiew?

Trotz Feiertags und Wochenende wirkte die Stadt Kiew in den vergangenen Tagen wie ausgestorben. Tagsüber waren kaum Autos oder Fußgänger unterwegs, am Abend waren die Restaurants und Bars leer. Die Stadt hatte die Bürger seit Tagen aufgerufen, nicht auf den Maidan im Zentrum der Hauptstadt zu gehen. Mehrere Gruppen hatten für den Sonntag vor Unruhen gewarnt oder Proteste angekündigt. Der Generalstaatsanwalt hatte die Bevölkerung aufgefordert, sich „nicht an Provokationen zu beteiligen“.

Trotz oder gerade wegen der unsicheren Lage werben die Präsidentschaftskandidaten dafür, den Wahltermin am 25. Mai 2014 nicht infrage zu stellen. „Putin will uns alle verunsichern, er will keine freien und fairen Wahlen in der Ukraine“, sagte die frühere ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Auch der Kandidat Petro Poroschenko rief seine Anhänger zur Einigkeit auf: „Lasst uns zusammenhalten, Demokraten müssen nun Farbe bekennen, wir wollen auch weiter Ukrainer bleiben.“ Ein weiterer Kandidat, der frühere Verteidigungsminister Anatoli Gritsenko, ließ sich in Camouflage und mit Sturmgewehr ablichten und forderte: „Stoppt Putin, er plant einen Krieg gegen die gesamte zivilisierte Welt, das werden wir nicht zulassen.“

Wie verhält sich die Kiewer Regierung?

Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk ist am Sonntag nach Odessa gereist, dort betonte er die Notwendigkeit der Einheit. „Wir werden unsere Probleme nur gemeinsam lösen können, deshalb müssen wir den Dialog suchen und die Einheit der Ukraine bewahren“, sagte Jazenjuk. Bei einem Treffen mit Regionalvertretern sagte der Regierungschef, die Unruhen, die am Freitag in Odessa über 40 Menschenleben forderten, seien durch prorussische Separatisten provoziert worden. „Die jüngsten Entwicklungen in Odessa sind nicht nur für die Stadt, sondern für die gesamte Ukraine eine Tragödie“, sagte Jazenjuk. Er kritisierte die Polizei, die viel früher hätte einschreiten müssen. Warum sich die Sicherheitsorgane derart passiv verhalten hätten, müsse ebenfalls aufgeklärt werden.

Der frühere Innenminister Juri Luzenko ging noch einen Schritt weiter, „die Polizei in Odessa hat sich auf die Seite der Separatisten geschlagen“, schreibt er auf seiner Facebook-Seite. Aufklärung alleine reiche nicht aus, Luzenko forderte eine Neustruktur des gesamten Sicherheitsapparates der Ukraine.

Hängt die Eskalation der Lage mit der Freilassung der OSZE-Geiseln zusammen?

Offenbar hatten alle Seiten ein großes Interesse an der Freilassung der Männer der OSZE-Militärmission. Die Ukrainer, weil sie den Westen um die Experten gebeten hatten und den Männern keine Sicherheit bieten können. Die Russen, weil der Westen jeden Tag mehr Druck auf die Entscheider in Moskau ausgeübt hat, auf die Geiselnehmer einzuwirken. Russland fordert von der OSZE eine scharfe Reaktion auf die „Antiterroroperation“ in der Ostukraine. Die Regierung in Kiew führe eine „Strafaktion gegen das eigene Volk“ durch, aber der Westen schweige dazu, kritisierte das Außenministerium in Moskau am Sonntag.

Die ukrainische Regierung wird aber von nun an alles daransetzen, die besetzten Städte und Gebäude in der Ost- und Südukraine wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Ob das gelingt und wie lange die dafür vorgesehene „Antiterroraktion“ andauern wird, ist unklar. In Kiew ist für den Regierungschef und den Interimspräsidenten klar, dass die Lösung des Konflikts im Osten der Ukraine auch über ihre weitere politische Karriere bestimmen wird.

Nun erhalten das ukrainische Innenministerium und das Außenministerium offenbar Unterstützung von Militärexperten aus den USA, die in Kiew mit den Behörden zusammenarbeiten. Solche Hilfe hatten Vertreter der Regierungspartei im März beim Besuch von US-Außenminister John Kerry in Kiew vehement gefordert. Ob die Hilfe der Amerikaner aber dazu führen wird, die Krise in der Ukraine schnell zu beenden, oder ob dies der Anfang einer langen Auseinandersetzung wird, ist heute nicht zu beantworten.

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