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Egal, wer von beiden gewinnt: Die Konflikte gehen weiter

© Reuters

US-Wahl, Dresden, Brexit: Der Westen im Kampf mit sich selbst

Im US-Wahlkampf, in Dresden, beim Brexit: Das Geschrei hat längst das Gespräch ersetzt. Dass sich die Wogen alsbald wieder glätten, ist eine trügerische Hoffnung. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Verstanden wurde das Phänomen noch nicht. Es gibt Annäherungen, Puzzlesteine. Die Diagnose ernüchtert: Der Westen – jenes Gefüge demokratisch verfasster Staaten, hervorgegangen auch aus der europäischen Aufklärung – liegt im Kampf mit sich selbst. Im Innenverhältnis der Gesellschaften toben sich Konflikte aus, bei denen es um Migration, Islam, Globalisierung, Digitalisierung, Abstiegsängste und Autoritarismus geht. Auffällig ist das hohe Maß an Erbitterung und Verbitterung, mit dem der Streit geführt wird. Das Geschrei hat das Gespräch ersetzt.

„Amerika ist auf dem Weg in die Hölle“, ruft Donald Trump seinen Anhängern zu. Hillary Clinton gehöre eingesperrt. Angela Merkel und Joachim Gauck seien „Volksverräter“, skandieren Demonstranten in Dresden. In Großbritannien werden Richter, die die Parlamentsrechte beim Brexit gestärkt haben, vom Boulevard als „Volksfeinde“ tituliert. Ähnlich derbe, mitunter brutale Äußerungen fallen überall in Europa – von Ungarn (Viktor Orban) über Frankreich (Marine Le Pen), den Niederlanden (Geert Wilders) bis nach Österreich (Heinz-Christian Strache).

Weil die Themen als existenziell wahrgenommen werden, vertieft sich die Spaltung über die akuten Anlässe hinaus. Die Hoffnung, in Amerika etwa würden sich die Wogen nach der Wahl wieder glätten, dürfte trügen. Sollte Trump gewinnen, werden Clinton-Anhänger das als Ergebnis einer unheiligen Koalition aus FBI, KGB und Lügen-Propaganda werten. Sollte Clinton gewinnen, werden das Trump-Anhänger als Beweis für ein korruptes Konglomerat aus Politik-Elite, Wall Street und liberaler Presse ansehen. Einst begründeten demokratische Wahlen die Legitimität von Regierungen. Heute verstärken sie Tendenzen der Delegitimierung politischer Herrschaft.

In Europa und Amerika steht außerdem der Islam im Fokus

Zu den Opfern gehören als Erstes Fremde. Das gilt für Großbritannien, wo seit dem Brexit-Votum vermehrt Polen angegriffen werden. Und es gilt für Deutschland, wo Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verübt werden. Sowohl in Europa als auch in den USA steht außerdem der Islam im Fokus.

Allerdings richtet sich die Fremdenfeindlichkeit mit großer Intensität auch nach Innen. Die Nachbarn, die in der Kirchengemeinde Zusammenkünfte mit Flüchtlingen organisieren, werden oft leidenschaftlicher gehasst als die Flüchtlinge selbst. Der Norweger Anders Breivik zielte bei seinen Terroranschlägen im Sommer 2011 auf vermeintlich ausländerfreundliche jugendliche Landsleute. Der Muslim, der eine Moschee besucht, ist dem Rechtspopulisten zumindest begreiflich. Der Landsmann indes, der das Recht von Muslimen verteidigt, in ihrer neuen Heimat Moscheen bauen zu dürfen, ist ihm unbegreiflich und wird daher als Bedrohung wahrgenommen.

Vermutlich gäbe es das Phänomen der gesellschaftlichen Polarisierung auch ohne Flüchtlinge und ohne Islam. Denn die Ursachen gehen tiefer. Sie betreffen das Verhältnis von Eliten zum Volk in Demokratien, denen das Telos, der Endzweck abhanden gekommen ist. Dem Westen fehlt der Sinn seiner selbst. Kein Wunder, dass missionarisch-nationalistische Politiker erfolgreich sind. Von Viktor Orban über Jaroslaw Kaczynski bis Donald Trump. Wer sich der Sinnstiftung und dem Alarmismus dagegen entzieht – Hillary Clinton, Angela Merkel –, löst Verachtung aus.

Sieger und Verlierer kann es in diesem Streit nicht geben. Auch das spricht dafür, dass er uns noch lange begleitet.

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