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Der Splitter in deines Bruders Auge.

© Ronald Wittek / picture alliance / dpa

Vatikan und Missbrauch: Mit den Augen eines Muslims

Der Islam sei keine Religion des Friedens, heißt es oft. Und was ist mit dem Christentum? Ein Gedankenexperiment aus aktuellem Anlass.

Vergleiche sind ja oft schwierig. Äpfel und Birnen und so. Aber gegen ein kleines Gedankenexperiment sollte keiner etwas haben, oder? Nun denn: 

Sie sind Muslim (oder Muslima), nicht sehr fromm, leben in Deutschland. Zum Ramadan fasten Sie, aber das war’s dann auch. Bei Christen gibt’s den Weihnachtschristen, der nur an Heiligabend in die Kirche geht. Analog dazu könnte man Sie als Ramadanmuslim bezeichnen. Ihr Glaube gehört zwar zu Ihrer Identität, aber eher locker als fest.

Trotzdem wird Ihnen der Islam regelmäßig unter die Nase gerieben. Wenn irgendwo auf der Welt muslimische Terroristen ein Attentat verüben, sollen Sie sich davon distanzieren. Am besten gleich 'ne Demo machen. Der Islam sei keine Religion des Friedens, heißt es dann von vielen Nicht-Muslimen. Überhaupt sei Religion etwas sehr Privates. Deshalb brauche der Islam eine Art Reformation, müsse aufgeklärt werden, dürfe auf keinen Fall politisch sein. Muslime müssten der Gewalt abschwören, Frauen sich emanzipieren lassen, Homosexualität tolerieren.

An guten – oder besser gesagt: meist gut gemeinten – Ratschlägen von außen mangelt es Ihnen als Muslim wahrlich nicht. Manchmal haben Sie den Eindruck, die Nicht-Muslime seien erst dann zufrieden, wenn es den Islam nur noch im Verborgenen gibt. Ach, wäre es doch so leicht wie bei den Christen, die einfach aus der Kirche austreten können.

Hunderttausende von Seelen wurden verwundet

Und nun verfolgen Sie die Nachrichten aus dem Vatikan. Dort befasst sich derzeit eine große internationale Konferenz mit den Folgen des Missbrauchsskandals. Hunderttausendfach wurden Kinder und Jugendliche von christlichen Geistlichen misshandelt, gedeckt durch ein System des Verschweigens und Vertuschens. Hunderttausende von Seelen wurden verwundet, manche Narben heilen nie.

Sie fragen sich: Von den Anhängern dieser angeblich wahren Religion des Friedens, von frommen Christen und säkularisierten Traditionschristen, von denen viele stolz sind auf das abendländische Erbe ihres Glaubens – von denen soll ich mir sagen lassen, was an meiner Religion, dem Islam, falsch ist? Von denen muss ich belehrt werden über Aufklärung und Humanismus, Toleranz und Würde des Menschen? Man stelle sich nur vor, Imame hätten weltweit und jahrzehntelang in Schulen und Moscheen Kinder missbraucht – was dann wohl los wäre! Es drohten antimuslimische Pogrome mit Toten und Verletzten.

Sie sehen sich um in Ihrer Nachbarschaft. Rüttelt der Missbrauchsskandal die Nebenfrau und den Nebenmann wirklich auf? Das hat mit mir nichts zu tun, sagen diese so teilnahmslos wie lapidar. Aber warum hat der Terror dann mit Ihnen, dem Ramadanmuslim, zu tun?

Die Bibel zitiert Jesus mit dem Satz: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge - und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?“ Als Sie davon hörten, gefiel Ihnen der Satz, weil er Sie an den Koran erinnerte. Dort nämlich heißt es: „Wollt ihr etwa den Menschen das gottgefällige Handeln gebieten und euch selbst dabei vergessen, ihr, die ihr die Schrift vortragt?!“

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