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Gesundheit: Verheugen warnt vor Kollaps

Der EU-Kommissar sagt auch für Deutschland eine massive Steigerung der Gesundheitskosten voraus und warnt vor einer Zweiklassenmedizin.

Der Industriekommissar und Vizepräsident der EU-Kommission, Günter Verheugen, sorgt sich um das deutsche Gesundheitssystem. „Wir stehen vor revolutionären Veränderungen bei den Therapieformen“, sagte Verheugen beim Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit in Berlin. Zu finanzieren seien die wünschenswerten Innovationen aber nur durch eine „enorme Effizienzsteigerung im System“ – wenn man denn keine Zweiklassenmedizin haben wolle.

Bloß weil die neuen Produkte teuer würden, könne und dürfe man die Innovationsfähigkeit der Hersteller nicht bremsen, betonte der EU-Kommissar. Und sie nur denen zur Verfügung zu stellen, die sie privat bezahlen können, sei „in unserer Gesellschaft nicht denkbar“. Die einzige Lösung sei, den Verwaltungsapparat im Gesundheitswesen zu entschlacken und deutlich leistungsfähiger zu machen. Dennoch werde sich die finanzielle Beteiligung der Bürger an den Gesundheitskosten in den nächsten zwölf Jahren wohl von neun auf etwa fünfzehn Prozent des verfügbaren Einkommens erhöhen.

Ausdrücklich warnte Verheugen davor, die Kosten für innovative Medizin möglichst gering halten zu wollen. Volkswirtschaftlich gesehen sei dies überaus fragwürdig, sagte der SPD-Politiker. Bei zu rigide regulierten Preisen gehe die Industrie „dorthin, wo sie ihre Renditeerwartungen besser realisieren kann“. Schon jetzt kämen neun von zehn wichtigen Arznei-Innovationen aus den USA. „Wir sind nicht mehr die Apotheke der Welt, und die Abwanderung setzt sich fort“, sagte Verheugen. Er wundere sich, „dass sich hier keiner darüber aufregt“.

Die Botschaft des Kommissars war deutlich: Deutschland dürfe sich nicht abhängen lassen auf einem Sektor, wo weltweit noch hohe und stabile Wachstumsraten zu erwarten sind. Gerade in Schwellenländern sei mit hohem Nachfragezuwachs zu rechnen. Mit steigendem Einkommen nehme der Anteil der Gesundheitsausgaben zu. So lägen die Gesundheitsausgaben in den OECD-Ländern pro Kopf und Jahr bei 2716 US-Dollar, in China jedoch erst bei 70 und in Indien bei 31 US-Dollar.

„Großen Handlungsbedarf“ sieht Verheugen für Europa noch in der Entwicklung von Biotechnologie-Produkten. Der Kommissar nahm das Wort Stammzellforschung zwar nicht in den Mund, beklagte jedoch „ideologisch hochaufgeladene Diskussionen“. Ethische Grenzziehungen seien zwar nötig. Es könne aber nicht sein, dass eine Gruppe der anderen ihre Überzeugung aufzudrücken versuche.

Dass der Industriekommissar wenig von Werbeverboten hält, war nicht überraschend. Allerdings wurde Verheugen hier sehr drastisch. Es beschleiche ihn Unbehagen, wenn man Kampagnen für gesundheits- oder umweltbewusstes Verhalten mit der Forderung nach Werbeverboten oder -geboten verbinde, sagte er. Man dürfe den Bürgern nicht vorschreiben, wie sie zu leben hätten. „Die Grenze für eine freiheitliche Gesellschaft ist längst überschritten, und ich warne davor, hier weiterzugehen.“ Statt verbieten zu wollen, müsse man auf Selbstverantwortung und die Kräfte des Marktes setzen.

Als „ernsthafte Bedrohung für die Bevölkerung“ bezeichnete Verheugen die zunehmenden Arzneifälschungen. Europa sei für imitierte Lifestyle- und Hochpreisarznei nicht mehr nur Durchgangsstation, sondern gezielter Absatzmarkt. Von 2005 auf 2006 habe die Zahl beschlagnahmter Fälschungen um 380 Prozent zugenommen, „und das geht so weiter“. Verheugen kündigte deutlich verschärfte Kontrollen an und betonte, dass man insbesondere auf die Unversehrtheit der Verpackungen achten werde. „Geöffnete Blister wird es nicht mehr geben“, sagte er.

Im Streit um eine Lockerung des Informationsverbots für verschreibungspflichtige Arznei seitens der Hersteller bekannte sich Verheugen zur Notwendigkeit besserer Patienteninformation. Bisher, so sagte er, seien Interessierte auf schwer zu bewertende oder irreführende Angaben im Internet angewiesen. Dieser Zustand sei „schwer erträglich“. Andererseits müsse das Abgleiten von Herstellerinformation in absatzfördernde Werbung verhindert werden. Diese Abgrenzung sei „unglaublich schwierig“. Bis Oktober will der Kommissar einen Vorschlag vorlegen.

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