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Vermisstenmeldungen: Türkei: Das Land der verlorenen Kinder

In der Türkei werden fast 1700 Kinder vermisst. Gerüchte von einer Organmafia und Menschenschmugglern machen die Runde. Die Öffentlichkeit ist entsetzt und tief verunsichert. Auch die Regierung in Ankara ist besorgt. Eine Sonderkommission soll nun helfen, das Rätsel zu lösen.

Als die 14-jährige Zeynep und ihre achtjährige Cousine Asliye aus dem südostanatolischen Bingöl vergangene Woche losgingen, um ein Schulbuch zu kaufen, dachten sich ihre Familien nichts dabei. Frohgelaunt spazierten die Mädchen durch die Stadt, wie Bilder einer Überwachungskamera später zeigen sollte. Doch dann verschwanden die beiden spurlos. Ihr Schicksal ist kein Einzelfall: In der Türkei werden knapp 1700 Kinder vermisst - Gerüchte von Organhändlern und Menschenschmugglern machen die Runde.

Mehrere Tage lang suchte ganz Bingöl nach Zeynep und Asliye, dann wurden ihre Leichen in einem nahen Fluss gefunden. Wie sie starben, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Behörden gehen von einem Unfall aus. Die Mädchen hätten offenbar kein Geld für den Bus nach Hause gehabt und seien auf dem Fußweg ausgerutscht, in den eisigen Fluss gefallen und ertrunken. Doch möglicherweise wurden sie auch Opfer eines Verbrechens. Ein Lumpensammler sagte aus, er habe den beiden Mädchen gesagt, sie sollten sich vom Flussbett fernhalten. "Da sind sie umgekehrt, und ich habe sie nicht mehr gesehen."

Während die Polizei in Bingöl noch nach den verschwundenen Mädchen fahndete, wunderten sich die Bewohner eines Dorfes in der Provinz Mardin rund 150 Kilometer südlich über einen Besucher, der sich als Vertreter des Erziehungsministeriums vorstellte. Vier Mädchen aus dem Dorf sollten wegen besonderer schulischer Leistungen ausgezeichnet werden und mit ihm zur Preisübergabe fahren, erklärte er. Als er sich dann nach etwaigen Krankheiten oder chirurgischen Eingriffen bei den Kindern erkundigte und betonte, der Lehrer der Mädchen solle nichts von der Auszeichnung erfahren, wurden die Dörfler misstrauisch und wollten einen Ausweis sehen. Darauf setzte sich der Unbekannte in seinen Wagen und fuhr davon; er wurde wenig später festgenommen.

Fälle wie diese bestimmen in diesen Tagen die Schlagzeilen der türkischen Zeitungen. In der Stadt Bitlis entführte ein unbekanntes Paar ein zwei Tage altes Baby aus der Neugeborerenstation des Krankenhauses, in Nusaybin wurde die Entführung eines neunjährigen Kindes in letzter Minute verhindert. Bereits seit Ende September werden im zentralanatolischen Kayseri drei Kinder vermisst. Ihre Familie wandte sich jetzt an die Polizei in Mardin: Sie soll ihre Ermittlungen im Zusammenhang mit dem falschen Beamten vom Erziehungsministerium auf den Fall in Kayseri ausweiten. Möglicherweise habe der Verdächtige etwas damit zu tun.

Im internationalen Vergleich ist die Zahl der verschwundenen Kinder in der Türkei nicht einmal besonders hoch. Auch in Deutschland werden rund 1500 Kinder vermisst. Doch die Bindekraft der Familien in der Türkei ist generell höher als in Westeuropa. Dass ein 16-jähriger Teenager von zu Hause ausreißt, um sich selbst zu verwirklichen, ist in Deutschland eher wahrscheinlich als in der Türkei.

Deshalb ist die türkische Öffentlichkeit entsetzt und tief verunsichert. "Ein Staat, der seine Kinder verliert, ist ein rückständiger Staat", kommentierte die Zeitung "Vatan" am Freitag. Möglicherweise sei die Organmafia am Werk, berichteten etliche Blätter. Der Oppositionsabgeordnete Akif Ekici brachte eine andere Theorie ins Gespräch. Demnach könnten die verschwundenen Kinder von Kriminellen entführt werden, um sie zu Bettlern oder Einbrechern ausbilden zu können.

Die zentrale Polizeibehörde in Ankara erklärte zwar, es gebe keine Hinweise auf Aktivitäten einer Organmafia. Auch handelt es sich bei gut der Hälfte der Verschwundenen um Kinder aus staatlichen Heimen, von denen viele zu ihren Familien zurückkehren, ohne dass die Behörden verständigt werden. Dennoch ist auch die Regierung in Ankara angesichts der Zahlen besorgt. Eine Sonderkommission aus vier Ministerien soll nun helfen, das Rätsel der verlorenen Kinder zu lösen.

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