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Vorwürfe: Türkischer Präsident im Fadenkreuz der Justiz

Der Konflikt zwischen Kemalisten und Regierung in Türkei verschärft sich wieder. Ein Richter fordert, der bei den Kemalisten verhasste Staatspräsident Gül müsse vor Gericht gestellt werden - nur ein politisch motiviertes Manöver?

In der Türkei hat die Justiz einen neuen Angriff auf den Staatspräsidenten gestartet. Fast genau zwei Jahre nach dem Versuch des Verfassungsgerichtes, die Wahl des damaligen Außenministers Abdullah Gül ins höchste Staatsamt mit einer rechtlich höchst fragwürdigen Entscheidung zu verhindern, steht Gül nun erneut im Fadenkreuz der kemalistisch geprägten Justiz. Ein Provinzrichter fordert, der bei den Kemalisten verhasste Gül müsse vor Gericht gestellt werden - obwohl die Verfassung den Präsidenten schützt. Trotz der rechtlich äußerst dürftigen Ausgangslage könnte die Angelegenheit für Gül gefährlich werden.

Die Justiz in der Türkei ist in politischen Dingen keine Instanz mit Schiedsrichter-Funktion. Viele Richter und Staatsanwälte ergreifen offen und manchmal mit unlauteren Mitteln Partei gegen die Regierung, die in zwei Parlamentswahlen von den Wählern zuerst ins Amt gebracht und dann bestätigt worden ist. Motiviert werden die juristischen Heckenschützen durch die Überzeugung, dass die fromm-konservative Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan insgeheim eine islamistische Agenda verfolgt. Sie sehen sich als Verteidiger der Republik im Sinne von Mustafa Kemal Atatürk, doch sie schaden der Demokratie.

Vorwurf: Unterschlagung von Parteigeldern

Im neuen Fall Gül geht es um den Vorwurf, der heutige Staatspräsident sei in den neunziger Jahren an der Unterschlagung von Parteigeldern beteiligt gewesen. Damals war Gül ein führender Vertreter der inzwischen aufgelösten islamistischen Wohlfahrtspartei. Ein Richter in Sincan, einem Vorort von Ankara, fordert nun, Gül müsse wegen der Affäre vor Gericht gestellt werden. Dass die Verfassung sagt, der Präsident dürfe nur wegen Hochverrats angeklagt werden, kümmert ihn nicht. Selbst der Chef der türkischen Anwaltskammer, sonst kein Freund der AKP-Regierung, spricht von einem rein politisch motivierten Manöver.

Es geht aber um mehr als um einen privaten Rachefeldzug eines kleinen Richters. Erstens könnte der Fall trotz aller rechtlichen Fragezeichen dazu führen, dass Gül vor Gericht muss. Denn die Richter am Berufungsgerichtshof, die aller Voraussicht nach das letzte Wort in der Angelegenheit haben werden, mögen Gül ebenso wenig wie der Provinzrichter aus Sincan. Zweitens verschärft der juristische Angriff auf den Präsidenten die Polarisierung in der türkischen Gesellschaft, und das Vertrauen in die Justiz sinkt weiter.

Europa-Richter stellen Verstöße gegen Menschenrechtskonvention fest

Statt sich dauernd in die Politik einzumischen, sollten Richter und Staatsanwälte lieber ihre Arbeit tun, kritisierte eine Zeitung jetzt und verwies auf Zahlen des Europäischen Menschenrechtsgerichtes in Straßburg, das eine Art Kontrollfunktion für die Justizsysteme der Türkei und anderer Europarats-Länder ist. Die Straßburger Bilanz fällt für die Türkei sehr schlecht aus: In fast 1700 von rund 1950 Gerichtsentscheidungen aus der Türkei, die den Europa-Richtern bisher vorgelegt wurden, stellte Straßburg Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention fest. In mehr als 500 Fällen hätten die Betroffenen in der Türkei kein faires Gerichtsverfahren erhalten, tadelten die Straßburger Richter.

Trotz solcher Mängel ist es unwahrscheinlich, dass sich am ideologischen Sendungsbewusstsein vieler türkischer Richter bald etwas ändert. Selbst die höchsten Gerichte im Land lassen sich nicht von europäischen Normen leiten, sondern von ihrem eigenen Nationalismus. Erst kürzlich gab der türkische Berufungsgerichtshof grünes Licht für einen Schadensersatzprozess gegen Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk wegen dessen Äußerungen zur Armenierfrage. Die Kläger machten geltend, sie seien als Mitglieder der türkischen Nation durch Pamuks Äußerungen in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt worden.

EU-Reformen sind in einem solch vergifteten innenpolitischen Klima kaum zu erwarten. Hohe Richter haben die - demokratisch gewählten - Politiker davor gewarnt, die Verfassung zu ändern, wie es die EU seit langem fordert. Die Suche nach einem Konsens in den wichtigen Fragen des Landes wird in der Türkei immer schwieriger.

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