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Matthias Jung, geboren 1956, ist im Vorstand der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen.

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Wahlforscher Matthias Jung: „Die CDU muss bei den Jüngeren gewinnen“

Ein Interview mit dem Wahlforscher Matthias Jung über die Programmatik der Partei und die Rolle der Kanzlerin.

Erwin Teufel sagt, die Stammwähler der CDU könnten deren Alleinvertretungsmerkmale und ihre Kernkompetenz nicht mehr erkennen. Stimmt das?

Was ist die Kernkompetenz einer Volkspartei? Andere sprechen von einem Markenkern, den man nicht aufgeben dürfe. Was soll das eigentlich sein bei einer Volkspartei, also einer „catch-all-party“, die ja letztlich darauf aus sein muss, alle zu erreichen? Teufel spricht von den Selbständigen, den unselbständigen Mittelständlern, den freien Berufen und den Arbeitnehmern – da bleibt ja niemand übrig, den die Partei nicht erreichen will. Also kann es einen Markenkern auch gar nicht geben, der müsste ja zu Unterscheidung und Abgrenzung dienen. Die FDP oder die Grünen brauchen das, aber keine Volkspartei, die immer eine deutliche Mehrheit in der Gesellschaft im Blick haben muss.

Aber da ist doch auch Konkretes gemeint ...
Ja, wahrscheinlich ist die Kompetenz in der Wirtschaftspolitik gemeint. Überlegenheit bei der Kompetenz in der Sozialpolitik hat die Union ja noch nie gehabt, obwohl sie die dringend bräuchte, wenn sie die Breite der Gesellschaft erreichen will. Früher hatten wir die beiden großen Volksparteien, die Union mit dem Schwerpunkt einer sozial abgesicherten Marktorientierung und die SPD mit dem Profil Richtung soziale Sicherheit und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Diese beiden Kernkompetenzen der großen Volksparteien haben sich abgeschliffen, weil sich beide mehr zur Mitte hin orientiert haben. Die SPD hat sich durch die Agenda 2010 stärker Richtung Wirtschaftsorientierung bewegt, und die CDU hat im Gegenzug Sozialkompetenz dazu gewonnen.

Gehört das christliche Menschenbild zur Kernkompetenz der CDU? Und wie könnte die Partei das ausleben?
Die CDU und die CSU hatten neben der christlichen Grundorientierung auch immer eine liberale und eine konservative, sogar eine explizit atheistische Komponente, die dann als humanistische bezeichnet wurde. Was die christliche Komponente angeht, hat die Union mit Sicherheit kein Defizit. Kaum jemand wird sagen, dass die Union fern von den Kirchen ist. Aber der Anteil der kirchlich Gebundenen ist natürlich sowohl in der Gesamtbevölkerung als auch in der Anhängerschaft der Union quantitativ deutlich zurückgegangen. Nur noch jeder zehnte Unionswähler stammt aus dem Bereich der Katholiken mit einer starken Kirchenbindung. Und es ist nicht so, dass ein Großteil der Katholiken mit starker Kirchenbindung eine andere Partei wählt – es gibt einfach nicht mehr.

Dann trifft die Kritik also nicht zu?
Man muss das alles viel dynamischer betrachten. Das Wahlverhalten ist sehr starken Veränderungen unterworfen, weil sich auch die Gesellschaft ändert. Die Demografie spielt eine wesentliche Rolle. Die CDU/CSU hat zum Beispiel von der Wahl 2005 bis zur Wahl 2009 über eine Million Wähler verloren – durch Tod. Seit der Bundestagswahl 1990 hat die Union 5,3 Millionen Wähler durch Tod verloren.

Muss man also ganz brutal sagen, dass bei der CDU oben mehr wegstirbt als unten nachwächst?
Ja, und das hat natürlich auch eine Auswirkung auf die inhaltliche Orientierung der Wählerschaft der Union. Wenn die Union die Zahl ihrer Wähler einigermaßen konstant halten will, wenn sie gar wieder die 40 Prozent erreichen will, die sie das letzte Mal 1994 hatte, muss sie in den jüngeren Wählerschichten in Zukunft erheblich mehr dazu gewinnen.

Heißt das, dass die CDU eigentlich viel mehr eine Politik für die Jüngeren als für die Älteren machen müsste?
Es muss sicher nicht die Politik für die 18- bis 21-Jährigen sein. Aber sie muss bei denen, die jünger als 60 sind, Boden gutmachen. Es reicht also nicht, wenn man sagt, die Union müsse Wähler zurückholen. Parallel dazu findet aber auch noch eine gesellschaftliche Veränderung statt. Die über 60-Jährigen von heute sind andere als die 60-Jährigen vor 20 Jahren, mit ganz anderen gesellschaftspolitischen Vorstellungen. Die rückwärts orientierte Betrachtung muss zwingend in die Irre führen und sie kann auch nicht die Richtschnur für die programmatische Entwicklung der Union sein.

Was bedeutet das?
Das heißt nicht, dass die Union alle inhaltlichen Positionen, die sie in der Vergangenheit erfolgreich besetzt hatte, über den Haufen werfen muss, aber sie hat – besonders in der jetzigen Koalition mit der FDP erkennbar – erhebliche Defizite im Bereich der sozialen Ausrichtung ihrer ökonomischen Politik. Das behindert die CDU/CSU, gegen die SPD zu punkten. Insofern schadet der Verweis von Erwin Teufel auf die Beschlüsse des Leipziger Parteitags eindeutig – schon gar in der christlich geprägten Klientel.

Was heißt das also programmatisch für die Union?
Durch die Beharrungstendenzen – man kann sie auch fundamentalistisch nennen – in den alternden Parteistrukturen (das betrifft nicht nur die Union) im Gegensatz zu einer sich dynamisch entwickelten Gesellschaft entsteht eine wachsende Entfremdung zwischen Parteien und ihren jeweiligen Wählerschaften.

Also heißt das Problem der Union, alles zusammengefasst, nicht Angela Merkel?
Nein, mit Sicherheit nicht, das sieht man auch schon an der Resonanz, die sie innerhalb der Unionswählerschaft hat. Sie hat da ein signifikant höheres Ansehen als alle Spitzenpolitiker der anderen Parteien innerhalb ihrer jeweiligen Parteien. Und innerhalb der Union haben wir überhaupt niemand, der in der eigenen Wählerschaft auf solche Spitzenwerte wie Angela Merkel kommt. Sie kriegt vom dezidierten politischen Gegner jetzt etwas schlechtere Werte als zu Zeiten der großen Koalition, aber entscheidend bleibt, wie weit ihre Reichweite in die Mitte der Gesellschaft geht.

Die Fragen stellte Gerd Appenzeller.

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