zum Hauptinhalt
Die Figur des Christus von San Esteban in Spanien durch ein Fenster gesehen.

© Eduardo Briones/dpa

Was würden Jesu Jünger in Coronazeiten machen?: Karfreitag erinnert an menschliche Schwächen in der Krise

Die Reaktion der Jünger auf die grausame Kreuzigung von Jesus erinnert uns an unsere Schwächen - die wir zulassen dürfen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Tilman Schröter

Die Karwoche ist eine merkwürdige Zeit. Kurz vor dem höchsten christlichen Feiertag, kurz bevor über zwei Milliarden Christen in aller Welt die Auferstehung  Jesu feiern, erinnern sie am Karfreitag – an was? An Verrat, Verleumdung, Folter und Tod. Und nicht nur das: Das Folter- und Todeswerkzeug, an dem ihr Religionsstifter starb, ist auch noch das zentrale christliche Symbol – das Kreuz. Was soll das? 

Der Kreuzigung Jesu in den Evangelien Erzählungen gehen die sogenannten Passionserzählungen voraus. Sie erzählen, wie es überhaupt zur Hinrichtung Jesu kam und stellen in gewisser Weise die Höhepunkte der Evangelien dar. 

Die kleine Gemeinschaft Jesu und seiner Anhänger ist in eine handfeste Krise geraten. Jesus hat sich mit seinen Provokationen bei den jüdischen Autoritäten Jerusalems derart unbeliebt gemacht, dass die es allmählich satthaben und ihn beseitigen wollen. Da sie das allerdings nicht selbst bewerkstelligen können, wenden sie sich an die Römer, die in der Provinz Judäa die Macht ausüben und sich das Recht, Todesurteile zu vollstrecken, vorbehalten haben. Es kommt zum Prozess, Jesus wird verhaftet, verhört und gefoltert. 

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog (Link: https://www.tagesspiegel.de/wissen/coronavirus-krise-weltweit-johns-hopkins-uni-meldet-mehr-als-80-000-tote-weltweit/25560996.html). Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden .]

Für die Jünger bedeutete das eine radikale Herausforderung. Bis dahin waren sie ihrem Meister voll Bewunderung gefolgt, waren überzeugt von seiner Botschaft. Und nun das – die Ereignisse in Jerusalem machten unmissverständlich klar, dass es so nicht weitergehen würde. 

Die Jünger zeigen sich in dieser Situation nicht eben als Vorbilder standhaften Verhaltens. Judas verrät Jesus, Petrus verleugnet ihn, die restlichen fliehen – Jesus wird von seinen engsten Vertrauten verlassen. Er wird gefoltert und ans Kreuz genagelt – eine typisch römische Hinrichtungsart, die vor allem bei Schwerverbrechern und politischen Aufrührern angewandt wurde. Der Druck der politischen und religiösen Autoritäten führt die kleine Gemeinschaft an den Abgrund ihrer Existenz.  

Warum steht so etwas an derart prominenter Stelle in den Evangelien?  

Druck- und Ausnahmesituationen fordern uns in einzigartiger Weise heraus. Das kommt einem in diesen Tagen leider sehr vertraut vor. Die Weltgemeinschaft befindet sich in einer Lage, die vielleicht einmalig ist. Praktisch alle Länder der Erde befinden sich in einem kollektiven Abwehrkampf gegen eine unsichtbare Gefahr. Viele Menschen sind bereits durch das Coronavirus gestorben. Das medizinische Personal arbeitet am Anschlag. 

Das Virus hat dafür gesorgt, dass unsere Wirtschaft beinahe komplett heruntergefahren wurde und dass Kinder nicht mehr in die Schule gehen können. Scharfe Ausgangsbeschränkungen bestimmen unser Leben. Statt sich zum Angrillen in den Park zu gehen, sitzt man zu Hause. 

[Alle wichtigen Updates des Tages zum Coronavirus finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier. ]

Einen solchen Einschnitt haben viele hierzulande so noch nicht erlebt. Alle großen Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg – der Kalte Krieg, „Nine-eleven“ und seine Folgen, die Finanzkrise und die sogenannte Flüchtlingskrise – haben die westlichen Gesellschaften auf die Probe gestellt und mitunter auch für Einschränkungen der persönlichen Freiheit gesorgt. Aufs Ganze gesehen muss man jedoch konstatieren: Einschränkungen haben dabei die wenigsten erfahren und wenn, waren sie bei weitem nicht so einschneidend wie jetzt. 

Nun aber ist das anders. Wir befinden uns in einer ungewohnten Situation. Das Virus wirkt sich ganz praktisch auf unseren Alltag aus. Man sorgt sich beim Rausgehen, macht einen Bogen um andere Personen, will schnell wieder aus dem Supermarkt, aus Angst vor Ansteckung.  

Auch Verantwortliche leugneten zunächst die unsichtbare Gefahr

Die Reaktionen auf diese ungewohnte Herausforderung waren auch: Verdrängung und unvernünftiges Verhalten – auch von Verantwortungsträgern. 

In Großbritannien wurde auf „Herdenimmunität“ gesetzt, die viele tausend Menschen in Gefahr brachte; der amerikanische Präsident leugnete das Virus solange, bis die Zahlen so exorbitant stiegen, dass es sich nicht mehr leugnen ließ. Die Verantwortlichen in der Europäischen Union müssen sich derzeit die Frage gefallen lassen, wie weit es eigentlich her ist mit Solidarität und Gemeinschaft, wenn Staaten wie Italien, ein EU-Gründungsmitglied, am Rande des Kollaps stehen. 

Auch viele „normale“ Bürger hielten nicht an Anweisungen von Behörden, sondern gingen in die Parks und entspannten sich in der Sonne, während auf den Intensivstationen die Beatmungsgeräte knapp wurden. Hamsterkäufe ließen den Eindruck entstehen, dass die Apokalypse bevorsteht und man lieber nochmal schnell für sich selbst sorgt – auch wenn es keinerlei Anlass dafür gab. 

„Dass wir diese Krise überwinden werden, dessen bin ich vollkommen sicher. Aber wie hoch werden die Opfer sein? Wie viele geliebte Menschen werden wir verlieren? Wir haben es zu einem großen Teil selbst in der Hand“, sagte Angela Merkel in ihrer Ansprache am 18. März. 

[Die Coronavirus-Krise ist auch für die Politik eine historische Herausforderung. Jeden Morgen informieren wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, in unserer Morgenlage über die politischen Entscheidungen, Nachrichten und Hintergründe. Zur kostenlosen Anmeldung geht es hier.]

Auf einmal merken wir: Unsere Freiheit kann durch unvorhergesehene Ereignisse radikal infrage gestellt werden.  

Und ja, irgendwann wird es besser, irgendwann wird die Zahl der Ansteckungen zurückgehen, wird sich die Wirtschaft erholt haben, wird es einen Impfstoff geben. Das hilft aber momentan nicht. Nicht dem Pflegepersonal, das am Anschlag arbeitet, nicht den vielen Menschen, die ihren Job verloren haben, nicht den psychisch Kranken, denen es in der Isolation besonders schlecht geht.   

Auf die Karwoche hat jetzt keiner Lust

Und jetzt ist auch noch Karwoche, da hat nun wirklich keiner Lust drauf. Ostersonntag macht in diesen Zeiten vielleicht noch ein bisschen Spaß. Soweit es geht, kann man seine Familie sehen, ein Osterfrühstück und ein Spaziergang sind vielleicht auch drin. Aber wer braucht jetzt den Karfreitag? 

Die zentrale Position des Kreuzes im Christentum hat etwas Revolutionäres – und provoziert. Dass der christliche Glaube einen Gegenstand auf den Altar stellt, der dazu diente, Menschen auf besonders grausame, weil langsame Weise zu töten, ist mindestens erklärungsbedürftig.  

Einen Ansatz bietet Martin Luther. Dem Reformator war die in der römisch-katholischen Kirche seiner Zeit übliche Form, Gott in metaphysisch-spekulativer Weise zu denken, ebenso zuwider wie eine Kirche, die Gott für Glanz und Gloria benutzte, von seiner Schmach am Kreuz aber wenig wissen wollte. Für Luther stand das dem Kern der christlichen Botschaft entgegen. Von Luther kann man deshalb lernen, dass Gott zuerst und vor allem im Leid, in der Niedrigkeit, eben am Kreuz erfahren wird. 

Karfreitag ist die Erinnerung daran: dass wir nicht immer alles im Griff haben; dass wir in Ausnahmesituationen auf uns selbst zurückgeworfen sind und nicht immer richtig handeln – und dass wir uns dem stellen sollten. Karfreitag ist die Stärke, das Negative, Peinliche, Abgründige in uns nicht zu verdrängen. 

Karfreitag erinnert uns daran, dass wir angesichts der Krise nicht machtlos sind

Das Zulassen dieser Situationen ist wichtig, Härten und Widrigkeiten sind Teil der Realität. Prüfungen, Vorstellungsgespräche, Schicksalsschläge, Gefahren, kurz: Momente in denen wir besonders gefordert sind, strengen uns an, lassen uns zweifeln – und bringen nicht immer das Beste in uns hervor, wie man an Jesu Gefährten sehen konnte. Karfreitag erinnert uns daran, dass menschliche Gemeinschaft nur gelingt, wenn wir menschliche Unvollkommenheit und Schwäche annehmen – nicht zuletzt die eigene. 

Und somit ist der Tag auch die Erinnerung daran, dass man die Art und Weise, wie man durch solche Zeiten kommt, selbst bestimmen kann – und wir nicht machtlos sind. Wir sehen es auch jetzt: wenn an Zäunen Essen und Kleidung für Obdachlose hängen, wenn Fremde für alte Leute einkaufen gehen, wenn sich Nationen gegenseitig unterstützen, indem sie Corona-Patienten aus Nachbarländern in ihren Krankenhäusern versorgen, wenn man eben doch die 1,5 Meter Abstand hält. „Ich bin sicher (...), dass wir einander nicht allein lassen“, sagte Angela Merkel am Ende ihrer Ansprache.  

Solidarisches Verhalten, Standhaftigkeit und Fürsorge, so merken wir, sind eben nicht selbstverständlich – sondern eine Entscheidung. Und am Ende ist auch das eine Erkenntnis der Karwoche, eine Erkenntnis von Karfreitag und dem Kreuz: Dass wir in den Extremsituationen besonders herausgefordert sind, aber selber wählen können, wie wir mit ihnen umgehen – und man in Gemeinschaft am besten mit ihnen zurecht kommt.   

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false