zum Hauptinhalt
Stolpersteine in Berlin. Am Tag der Erinnerung an die Pogromnacht vom 9. November 1938 sangen Mitglieder der Jungen Union in einer Kneipe das Westerwaldlied.

© Kai-Uwe Heinrich

Westerwaldlied am 9. November: Darf gesungen werden, was die Wehrmacht sang?

Erika, Muss i denn, Westerwaldlied: Ist es böswillig, provokativ oder geschichtsrevisionistisch, diese Lieder zu singen? Anmerkungen zu einem Eklat.

Zu Gefühlen und Gesetzen hat der Berliner ein recht entspanntes Verhältnis. An sonnigen Sonntagen wird die Wäsche gern schon mal im Garten oder auf dem Balkon getrocknet, und ob sich fromme Christen bei diesem Anblick in ihrer Feiertagsruhe gestört fühlen, ist den meisten egal. Die sollen sich mal nicht so anstellen, heißt es dann.

Die „Verordnung über den Schutz der Sonn- und Feiertage“ verbietet am kommenden Sonntag, dem Toten- oder Ewigkeitssonntag, von 4 bis 21 Uhr sowohl Sportveranstaltungen, die mit Unterhaltungsprogrammen verbunden sind, als auch musikalische Darbietungen jeder Art „in Räumen mit Schankbetrieb“ sowie „öffentliche Tanzveranstaltungen“.

Solche Verbote aber werden fröhlich missachtet. Ab 10 Uhr findet in der Kulturbrauerei die „Jumping & Friends Party“ statt, in der Ankündigung heißt es: „Wir bringen dich in der kalten Jahreszeit ordentlich ins Schwitzen! Im Kesselhaus Berlin, im Herzen der Kulturbrauerei, kannst du live miterleben, wie eine spektakuläre Location in eine unvergessliche Jumping Fitness Party verwandelt wird.“ Ab 15 Uhr lädt das Ballhaus unter dem Motto „Lockere Hüfte am Sonntagnachmittag“ zum Tanzcafé. Wir sind so frei.

Sehr viel unentspannter, ja geradezu fundamentalistisch, fielen dagegen die Reaktionen aus, als am 9. November, dem 80. Jahrestag der Pogromnacht, eine Reisegruppe der Jungen Union in der Kneipe „Zur Quelle“ in Berlin-Moabit das Westerwaldlied sang, oder besser gesagt: grölte.

Der 9. November ist kein ganz eindeutiger Erinnerungstag

Das Westerwaldlied, hieß es, sei das wohl bekannteste Lied der Wehrmacht gewesen, es an diesem Tag zu singen, deute auf ein problematisches Verhältnis zur deutschen Vergangenheit hin. Nun ist der 9. November, im Unterschied zum 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, kein ganz eindeutiger Erinnerungstag. Neben dem Beginn der November-Pogrome markiert er den Mauerfall (1989) und die Ausrufung der Republik (1918). Trauer, Scham, Freude, Stolz, Glück – das alles verbindet sich zu einer seltsamen Jojo-Gefühls-Melange. In diesem Jahr standen 100 Jahre Republik und 80 Jahre Pogrome im Vordergrund, im kommenden Jahr, dem 30. des Mauerfalls, dürfte es unbeschwerter zugehen.

Das steht fest: An einem 9. November, ganz gleich zum wievielten Jahrestag, das Westerwaldlied zu singen, ist äußerst unsensibel. Aber ist es mehr? Böswillig, provokativ, geschichtsrevisionistisch? Darüber lässt sich streiten. Die allgemeine Regel – Deutsche dürfen heute nichts tun, was die Nazis taten – ist auf jeden Fall zu eng gefasst.

Dieses Jungmännergegröle offensichtlich gerne im Militärzusammenhang gesungener Lieder ist mir zutiefst zuwider und es ist wirklich unsensibel, an einem solchen Tag überhaupt so herumzugrölen, [...]. Nichtsdestotrotz halte ich die Empörung darüber für ziemlich überzogen.

schreibt NutzerIn Dunkelreaktion

Hitler ernährte sich überwiegend vegetarisch, war tierlieb, Karl-May- und Wagner-Fan, seine Anhänger glorifizierten den deutschen Wald, überhöhten den Muttertag, waren naturverbunden und sangen gern. Soll man deshalb Waldrodungen zur antifaschistischen Tat erklären und Karl May auf den Index setzen? Außerdem sind bis heute diverse Gesetze aus der NS-Zeit gültig. Die Liste reicht von der „Verordnung zur wissenschaftlichen Vogel-Beringung“ über die Kilometerpauschale bis zur Hamburger Stellplatzpflicht für Wohnwagen.

Im Westerwald selbst hat es Volkslied-Charakter

Aus klangästhetischer Perspektive mag es gute Gründe für ein Verbot von Marschliedern geben, aber ein solcher Eingriff würde von vielen Menschen wohl als zu rigide empfunden. Das Westerwaldlied preist in erster Linie die Schönheit des Westerwalds. Weil es die Wehrmacht oft sang, wurde es in ganz Europa bekannt. Selbst in der französischen Fremdenlegion wird es von Legionären heute noch auf Deutsch gesungen. Im Westerwald selbst hat es Volkslied-Charakter.

Wehrmachtssoldaten sangen auch andere Lieder. „Muss i denn“ zum Beispiel. Elvis Presley setzte dem Refrain in „Wooden Heart“ ein Denkmal, vertont wurde das Lied auch von Vico Torriani, Heino, Karel Gott und Vicky Leandros. Tony Marshall wiederum spielte 1977 das vom NS-Komponisten Herms Niel stammende Lied „Erika“ (Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein) neu ein, das bei der Wehrmacht ebenfalls höchst populär war. Übersetzte Fassungen von "Erika" gibt es auf Afrikaans und auf Finnisch.

Dürfen Deutsche heute noch das Westerwaldlied singen? Diese Frage lässt sich ohne Berücksichtigung des Kontextes nicht beantworten. Denn nur der gibt Aufschluss darüber, ob das Singen aus heimatverbundener Tradition, unbedacht oder in böswilliger Absicht geschah. Würde es nur deshalb unterlassen, weil die Nazis das Lied mochten, würden die Nazis bis heute mitentscheiden, was zu tun und zu lassen ist. So viel Macht sollten sie auch im Nachhinein nicht bekommen.

Zur Startseite