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Sichtbare Judenfeindschaft: Immer wieder werden wie hier in Colmar Gräber geschändet.

© Christian Hartmann/ picture-alliance / dpa

Kampf gegen Antisemitismus: Wir brauchen Taten statt Worte

Die Zahl judenfeindlicher Straftaten steigt. Doch in Deutschland scheint die Gefahr des Antisemitismus nicht ernst genommen zu werden. Das muss sich ändern. Und Frankreich könnte ein Vorbild sein. Ein Gastkommentar.

Die Innenminister von Bund und Ländern zeigten sich in Mainz Ende vergangener Woche so einig wie selten: Vor dem Hintergrund des massiven Anstiegs judenfeindlicher Straftaten 2014 müsse Antisemitismus konsequent bekämpft werden. Der Schutz jüdischer Bürger sei Staatsräson. Das ist gut, muss jedoch für alle Bürger gelten. Und: Spezifische Programme, die den Worten Taten folgen lassen, sind rar und offensichtlich unzureichend. Ein Blick nach Frankreich zeigt, dass mehr getan werden könnte und müsste.

Dort gibt es seit Anfang des Jahres eine interministerielle Arbeitsgruppe und ein mit 100 Millionen Euro ausgestattetes Programm zur Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus. Bildungsprogramme in Schulen, Sportvereinen und Gedenkstätten sollen republikanische und laizistische Werte stärken, rassistische und antisemitische Vorfälle sollen stärker sanktioniert und Opfer unterstützt werden.

Websiten unter Beobachtung

Moscheevereine und radikale Islamisten werden vermehrt überwacht, radikale Prediger ausgewiesen. Regelmäßige Berichte sollen Vorfälle und Gegenaktivitäten dokumentieren. Auch im Internet werden Maßnahmen ergriffen. So werden extremistische Webseiten nicht nur beobachtet, sondern in Frankreich operierende Internetplattformen werden verpflichtet, sich auch dort zu registrieren, um eine eventuelle Ahndung zu ermöglichen.

In Deutschland ist man von derartigen Programmen noch weit entfernt. Schon bei der Erfassung von Antisemitismus gibt es erhebliche Defizite. Die Kategorien stammen noch aus den siebziger Jahren. Die Behörden erfassen lediglich politisch motivierte Kriminalität von "Rechts- und Linksextremen sowie Ausländern". Alles andere fällt unter den Tisch. 2014 gab es 1342 antisemitische Straftaten die als rechtsextrem eingestuft wurden, sieben als linksextrem, 176 Straftaten wurden "Ausländern" zugeordnet.

Es geht ja "nur" gegen Israel

"Anti-israelische" Straftaten sind dabei explizit ausgenommen, sie werden bestenfalls im "Themenfeld Israel-Palästinenser Konflikt" verbucht. Dort gab es immerhin 575 Straftaten, mit einem hohen Anteil von 91 Gewalttaten, 72 davon verübt von "Ausländern". Ebenso ausgenommen aus den Statistiken sind Straftaten radikaler Muslime mit deutscher Staatsbürgerschaft, die laut Zeitungsberichten und Umfragen unter Opfern antisemitischer Gewalt immer häufiger als Täter in Erscheinung treten. Die Kategorie "Ausländer" ist weder ausreichend noch zeitgemäß im Einwanderungsland Deutschland.

Wird ein Israeli, wie in Berlin geschehen, aufgrund eines Davidsterns an seiner Halskette in der U-Bahn als Jude erkannt und angegriffen, möglicherweise antisemitisch als "Kindermörder" und mit Sympathiebekundungen für die Hamas beschimpft, so wird das eher nicht als antisemitischer Vorfall eingestuft. Es geht ja "nur" gegen Israel, beziehungsweise Israelis

Versäumnisse der Forschung

Auch die Forschung hat bisher nicht viel zur Klarheit beigetragen. Eine wissenschaftliche Studie im Auftrag des Berliner Senats Anfang des Jahres verursachte einen Skandal, da sie - anstatt Vertretern jüdischer Gruppen erst einmal zuzuhören und dann entsprechenden Vorfällen nachzugehen - diesen unterstellte, Antisemitismus zu übertreiben oder gar zu "instrumentalisieren". Die gleiche Studie versucht, "Antizionismus" vor dem Vorwurf des Antisemitismus zu retten. Dies sei zu trennen von einer Kritik an der israelischen Regierung, die selbstverständlich genauso legitim ist, wie Kritik an der Regierung jeden anderen Landes.

Günther Jikeli ist Historiker und war Berater zur Bekämpfung von Antisemitismus bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

© Privat

"Antizionismus", wenn das Wort denn Sinn machen soll, läuft allerdings auf die Beendigung des zionistischen Projektes, das heißt auf das Ende Israels als Staat für Juden hinaus. Das wiederum hieße, die israelischen Bürgerinnen und Bürger den übrigen politischen Kräften in der Region schutzlos auszuliefern. Nur wer noch nie etwas von der antijüdischen Propaganda (und den Taten) beispielsweise von Hamas und Hisbollah (aber auch der Fatah) gehört hat, kann glauben, dass ein Ende Israels nicht zu massiver Diskriminierung und/oder Ermordung der in Israel lebenden Juden führen würde. Die Frage, ob Antizionismus antisemitisch ist oder nicht, geht am Thema vorbei. Wer Antizionismus heute unterstützt, nimmt die massenhafte Ermordung von Juden, Andersgläubigen und als "Verräter" gebrandmarkten israelischen Palästinenserinnen und Palästinensern in Kauf, die heute auf israelischem Staatsgebiet zusammenleben.

Neue Konzepte

Der Anstieg des Antisemitismus scheint in Deutschland noch nicht ernst genug genommen zu werden. Schöne Sonntagsreden und Appelle reichen nicht mehr aus. Man darf deshalb gespannt sein auf die Tagung am 2. Juli in der Topographie des Terrors in Berlin. Experten aus der Politik, Wissenschaft und Bildung werden dort unter dem Titel "Antisemitismus heute: Erfassen, Erforschen, Bekämpfen" neue Konzepte diskutieren. Diese sind dringend erforderlich. Denn der antisemitische Wahn ist eine Gefahr für die gesamte Gesellschaft.

Günther Jikeli, promovierter Historiker, ist Fellow der Groupe Sociétés, Religions, Laïcités am Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung in Paris. Ab August lehrt er als Gastprofessor an der Indiana University. Von 2011 bis 2012 war er Berater zur Bekämpfung von Antisemitismus bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Sein Buch "Antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in Europa" erschien 2012 im Klartext Verlag.

Günther Jikeli

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