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Wolfgang Thierse: "Wir müssen um unsere eigenen Stammwähler kämpfen"

Die Grünen werden für die SPD zur ernstzunehmenden Konkurrenz. Bundestagsvizepräsident Thierse über den Grünen-Höhenflug, die Wahlen in Berlin und das Verhältnis zwischen SPD und Linkspartei.

Herr Thierse, Renate Künast kandidiert in Berlin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin. Empfinden Sie das als Frechheit?

Nein. Das ist doch ein normaler demokratischer Vorgang, dass eine andere demokratische Partei eine Spitzenkandidatin aufstellt.

Künast will den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit beerben.

Nichts gegen persönlichen Ehrgeiz. Aber ich rate meiner Partei zu beträchtlicher Gelassenheit. Noch weiß ja niemand, ob der Höhenflug der Grünen in den Umfragen anhält. Wir sollten uns zu dieser Partei verhalten wie zu einem ganz normalen Konkurrenten.

Verbindet Sie denn mit den Grünen nicht mehr? Sie haben sieben Jahre zusammen im Bund regiert.

Rot-Grün bleibt für die SPD die wichtigste Option. Die inhaltlichen Überschneidungen zwischen beiden Parteien sind mit Abstand am größten. Das darf in der Wahlauseinandersetzung nicht vernebelt werden. Ein Teil des Höhenflugs der Grünen erklärt sich damit, dass die Grünen im Bund seit fünf Jahren in der Opposition sind, in Berlin sogar seit 20 Jahren. Sie eignen sich also besonders gut als Projektionsfläche für alle Wünsche und Hoffnungen. Das wird sich geben, wenn die Grünen konkret werden müssen.

Muss die SPD ihr Verhältnis zu den Grünen verändern, schärfer angreifen?

Die Hauptkampflinie im Land ist die zwischen Rot-Grün auf der einen und Schwarz-Gelb auf der anderen Seite, und das sollte man nicht verwischen durch eine künstliche hysterische Auseinandersetzung zwischen Rot und Grün. Wir müssen doch gar nicht um die unterschiedlichen Milieus der Grünen buhlen, sondern mit aller Leidenschaft und Kampfeslust um unsere eigenen Stammwähler kämpfen, etwa in Berlin um die Mieter, die Arbeitenden und die Arbeitslosen. Die SPD sollte als Kümmerer-Partei Vertrauen zurückgewinnen.

Der bayerische SPD-Chef Florian Pronold hat die Grünen neulich als die „Chinesen der Politik“ bezeichnet, die alles kopieren würden.

Das ist eine saftige Äußerung. Aber dass die Grünen manche Dinge von der SPD übernommen haben, kann auch ich mit einer gewissen Heiterkeit feststellen. Das vergrößert wieder das Ausmaß der Übereinstimmung.

SPD-Chef Sigmar Gabriel spricht von den Grünen als „neuer liberaler Partei“. Mit der Schwäche der Sozialdemokraten hat der Aufschwung der Grünen also gar nichts zu tun?

Gabriel hat nur eine nüchterne Feststellung gemacht: Von der dramatischen Schwäche vor allem der FDP profitieren fast nur die Grünen, wir aber nicht. Die Grünen sind eine bürgerliche Partei geworden, das passt auch zur Mehrheit ihrer Wählerschaft.

In Nordrhein-Westfalen funktioniert das Zusammenspiel in der rot-grünen Minderheitsregierung sehr gut. Hat das damit zu tun, dass Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann auf ein Koch-Kellner-Verhältnis verzichten?

Ach, kommen Sie mit doch nicht mit dieser Koch-Kellner-Geschichte! Irgendwann reicht es mir, wenn eine Äußerung eines wichtigen Sozialdemokraten …

… des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder …

… getan vor zehn Jahren, einem immer noch entgegengehalten wird. Das ist total überflüssig.

In Baden-Württemberg ist SPD-Spitzenkandidat Nils Schmid grundsätzlich bereit, einem Ministerpräsidenten der Grünen ins Amt zu verhelfen. Wird das auch Auswirkungen auf die Diskussion in anderen Bundesländern haben?

Es ist doch selbstverständlich, bei Wahlen gut abschneiden zu wollen. Aber wenn unser Traumergebnis nicht eintrifft, ist es ja nicht unvernünftig, zu sagen, wir verhalten uns so nüchtern und so demokratisch, dass wir, auch wenn wir schwächer sein sollten, mit der Partei koalieren, mit der es die größten Übereinstimmungen gibt. Alles andere wären unnötige heilige Eide.

Das gilt dann auch für Berlin?

In Berlin sind die Chancen der SPD, den Regierungschef zu stellen, erheblich besser als in Baden-Württemberg.

Sollten sich die drei Oppositionsparteien im Bund – SPD, Linkspartei und Grüne – schon jetzt zusammen darauf einschwören, Schwarz-Gelb 2013 im Bund abzulösen?

Die Linkspartei ist auf Bundesebene bisher immer noch damit beschäftigt, auf die SPD einzudreschen, ein geradezu irrationaler Abgrenzungskurs. Das macht die Sache schwierig. Aber es geht auch im Verhältnis zur Linkspartei weder um heilige Eide noch um falsche Verbrüderungsphantasien, sondern um die nüchterne Prüfung, wie viel an konkreter gemeinsamer Politik möglich ist.

Aber lieber wäre Ihnen, auf eine eigenständige rot-grüne Mehrheit zu setzen?

Das wäre das bessere Regieren. Wir haben Erfahrung miteinander, die inhaltlichen Übereinstimmungen sind groß. Natürlich müssen wir den Versuch machen, zu zweit eine Regierung zu bilden. Nach den gegenwärtigen Umfragen wäre das ja möglich. Aber wir wissen: Da kann sich noch viel ändern.

Das Gespräch führte Matthias Meisner.

Wolfgang Thierse (67) ist seit 2005 Vizepräsident des Bundestages. In die SPD trat er 1990 ein, seit demselben Jahr gehört er dem Bundestag an.

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