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Sind die Sanktionen für Hartz IV-Empfänger verfassungsgemäß? Das muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden.

© Sebastian Gollnow/dpa

Zukunft des ALG II: Die Höhe der Hartz IV-Bezüge ist das Problem - nicht die Sanktionen

Für viele sind die Sanktionen im Hartz IV-System der Inbegriff von Schikane und Einschüchterung. Sie sind aber nicht das größte Problem. Ein Gastbeitrag.

Seit Dienstag dieser Woche verhandelt das Bundesverfassungsgericht eine der umstrittensten Reformen des deutschen Sozialstaats: Sind die Sanktionen im Hartz IV-System verfassungswidrig? In der öffentlichen Debatte stehen die Sanktionen sprichwörtlich für den Abbau des Sozialstaates und den Verlust sozialdemokratischer Glaubwürdigkeit. Es ist daher nur zu verständlich, dass sich die Genossen, genau wie Grüne und Linke, nun vorgenommen haben, eine Reform der Reformen mit Hochdruck voranzutreiben.

Aktuell können bei Ablehnung von Arbeitsangeboten Leistungen um ein Drittel gekürzt werden. Im Extremfall droht sogar die vollständige Streichung. Für viele Hartz-Kritiker sind die Sanktionen deshalb der Inbegriff von Schikane und Einschüchterung. Sie fordern die Abschaffung aller Sanktionen.

Dafür gibt es durchaus gute Gründe: Sogar die interne Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit hat kürzlich festgestellt, dass Sanktionen bisweilen eher einen kompletten Rückzug vom Arbeitsmarkt zur Folge haben. Und internationale Studien zeigen, dass Sanktionen das Risiko vergrößern, in Kriminalität abzurutschen, obdachlos zu werden oder psychisch krank zu werden – von inakzeptablen Angriffen auf die Würde manch eines Leistungsbeziehers ganz zu schweigen. Besonders bedenklich: Gerade Menschen mit niedriger Qualifikation sind besonders oft betroffen.

Dennoch ist es falsch, sich bei der aktuellen Debatte über Hartz IV auf die Sanktionen zu konzentrieren. Denn die sind nicht das größte Problem.

Andere EU-Länder strafen viel härter

Laut Bundesagentur für Arbeit wurden 2017 rund eine Million Sanktionen verhängt, etwa 80 Prozent davon wegen geringfügiger Meldeversäumnisse. Die Größe der Zahl jedoch täuscht darüber hinweg, dass damit nur drei Prozent aller arbeitsfähigen Leistungsbezieher von Sanktionen betroffen sind. Damit entspricht die Quote im Wesentlichen dem europäischen Standard.

Einige Länder mit besonders hohen Leistungen sanktionieren sogar weitaus häufiger: In Dänemark und den Niederlanden etwa werden jährlich zwischen zehn und 20 Prozent der Bezieher Leistungen gekürzt. Auch in ihrem Umfang sind die Sanktionen in Deutschland bei weitem nicht die strengsten: In fast allen europäischen Ländern können Leistungen schon beim ersten Verstoß entzogen werden – und zwar vollständig.

Im internationalen Vergleich sind die deutschen Hartz-Sanktionen also weder auffällig hart noch besonders häufig. Problematisch ist vielmehr das niedrige Niveau der Leistungen. Denn diese bewegen sich im europäischen Vergleich bestenfalls auf durchschnittlichem Niveau. So ersetzt das Arbeitslosengeld II lediglich bis zu 40 Prozent des deutschen Medianlohnes. Damit aber liegt es tatsächlich unterhalb der Armutsgrenze. In Europa gibt es eine ganze Reihe an Ländern, die es deutlich besser machen. Allen voran Dänemark, Belgien und die Niederlande, die immerhin eine Leistung in Höhe von 40 Prozent bis 50 Prozent des Medianlohnes auszahlen.

Diese deutsche Sparsamkeit an der falschen Stelle aber hat konkrete Auswirkungen. Denn die Anzahl der Menschen, die in Deutschland trotz Sozialleistungen noch armutsgefährdet sind, liegt laut Eurostat bei rund 16 Prozent. In  Tschechien, Dänemark, Finnland und in den Niederlanden liegt diese Quote viel niedriger.

Erschreckend ist auch, dass etwa zwei Millionen Kinder in Deutschland von der Grundsicherung und folglich in Armut leben. Eine Erhöhung der Regelsätze oder die Einführung einer Kindergrundsicherung würden deshalb weitaus mehr Menschen helfen als eine Abschaffung der Sanktionen.

Nur eine Minderheit findet: Hartz IV ist genug Geld

Mit Recht sieht deshalb ein großer Teil der Bevölkerung die Sanktionen nicht als das größte Problem. Obwohl sich in einer Umfrage von 2018 eine deutliche Mehrheit für eine grundsätzliche Hartz-Reform ausspricht, findet sich keine Mehrheit für eine Abschaffung der Sanktionen. Im Gegenteil: Eine Civey-Umfrage aus dem Dezember 2018 zeigt, dass lediglich ein Drittel der Deutschen Leistungskürzungen bei Pflichtverletzungen als falsch empfindet. Besondern deutlich ist dies bei den Unter-25-Jährigen: Hier fordert eine Mehrheit sogar eine Verschärfung der Sanktionen.

Zugleich aber – und das ist entscheidend – hält jedoch nur eine Minderheit die Höhe der Zuwendungen für ausreichend. Und mehr als 70 Prozent der Menschen wünschen sich eine pauschale Erhöhung der Regelsätze für Kinder.

All das heißt nicht, dass die Sanktionen bei Hartz IV so bleiben sollen, wie sie sind. Im Gegenteil: Das jetzige System ist ungerecht und hat viel zu viele Nebenwirkungen, die vor allem die Schwächsten treffen. Wir brauchen deshalb eine Reform. Die Sanktionen sollten aber nicht im Mittelpunkt einer größeren Debatte über Hartz IV stehen. Ihre Abschaffung würde nur wenigen Menschen helfen und fände kaum eine Mehrheit in der Bevölkerung. Im schlimmsten Fall könnten wohlmeinende Reformen hier deshalb sogar die Akzeptanz einer grundlegenden „Hartz“-Reform gefährden.

Stattdessen sollten wir uns mit dem eigentlichen Problem  befassen: Mit den geringen Leistungen für die Betroffenen, allen voran für Kinder. Es ist daher richtig, dass die Bundesregierung mit dem "Starke-Familien"-Gesetz die finanziellen Hilfen für Familien aufstockt. Auch dass sich die SPD dazu entschlossen hat, eine Kindergrundsicherung einführen zu wollen, ist ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung. Die Kindergrundsicherung würde nicht nur das Leben vieler Menschen sofort verbessern, sondern fände auch eine breite politische Mehrheit.

Der Autor ist Referent für internationale Politikanalyse bei der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Christopher Gatz

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