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Von Claus-Dieter Steyer: Die Katastrophe vor der Tür

Mitten in Brandenburg spielt sich eine Tragödie ab: Das Oderbruch ertrinkt. Schon seit dem vergangenen Frühjahr steht in Häusern und auf Feldern der Region das Wasser – Besserung ist nicht in Sicht

Manschnow - Fast genau 60 Kilometer hinter der östlichen Berliner Stadtgrenze scheint das Land rechts und links der Straße plötzlich zu verschwinden. Dichte Nebelwolken steigen aus den noch immer vereisten Feldern auf. Hier und da breiten sich größere Wasserflächen aus, hinter dem Straßengraben ist ein Maisfeld gerade noch zu erahnen. Doch das kann nicht sein, Mitte Januar steht nirgendwo mehr reifer Mais. Natürlich könnte man jetzt die im trüben Grau nur schemenhaft erkennbaren Menschen fragen, doch die sind an ihren Häusern entlang der schnurgerade von Seelow zur Oder führenden Bundesstraße 1 stark beschäftigt, schleppen Schläuche und Eimer, hantieren mit Schaufeln, Spaten oder Besen. Verzweifelt kämpfen sie gegen die Wassermassen, die einfach nicht zurückgehen wollen. Und am Wochenende hat sich wieder nichts gebessert – im Gegenteil.

Feuerwehr, Technisches Hilfswerk sowie der Gewässer-und Deichverband sprachen am Montag vom „schlimmsten Wochenende seit dem vergangenen Herbst“. Hunderte Einsatzkräfte versuchten, mit Sandsäcken und Pumpen das Wasser aus mehreren Siedlungen abzuleiten. Das Technische Hilfswerk (THW) musste dem Blatt zufolge Helfer aus dem südbrandenburgischen Senftenberg anfordern, um in Sophienthal das Wasser von Häusern und einer Milchviehanlage wegzupumpen. Stundenlang wurde am Wochenende in Manschnow sogar der Verkehr von und nach Polen auf der B 1 unterbrochen, weil das auf mehreren Grundstücken stehende Wasser über die Bundesstraße abgepumpt werden musste. Zusätzlich führten ein Dammbruch bei Neutrebbin ebenso zu Überschwemmungen wie der Ausfall von zwei Schöpfwerken bei Zollbrücke und Zechin. Im mittleren Oderbruch stehe das Wasser inzwischen „zum Teil höher als beim Oder-Hochwasser von 1947“ – der bislang schlimmsten Überschwemmung, sagte der Chef des Gewässer- und Deichverbandes Oderbruch (GEDO), Martin Porath, der „Märkischen Oderzeitung“.

Zu den besonders betroffenen Einwohnern gehört Frank Schütz, Chef des gleichnamigen Blumenhandels in Manschnow, unweit der Kreuzung zwischen der B 1 und der B 112. Er hat zum Gespräch über die „dramatische Situation in meiner Heimat“ eingeladen. „Ja, das Oderbruch. Wirkt derzeit etwas unheimlich“, sagt er. „Dabei leiden wir nur unter viel zu viel Wasser. Es läuft schon seit dem vergangenen Frühjahr nicht mehr ab und macht uns alle noch verrückt. Wir ertrinken sozusagen.“ Auch das Maisfeld sei keine Fata Morgana. Im Herbst habe die Landschaft unter Wasser gestanden, die Erntemaschinen konnten gar nicht erst loslegen. Später habe Eis die Pflanzen eingeschlossen. Der Nebel und die große Seenlandschaft seien ebenfalls Folgen des bislang einmaligen Naturereignisses.

Den Begriff „Binnenhochwasser“, der von örtlichen Medien und Kommunalpolitikern jetzt so häufig gebraucht werde, lehnt Schütz ab. Er klinge viel zu verharmlosend. „Wir leiden hier unter einer echten Katastrophe“, sagt er und schildert seine persönliche Lage. „Das Wasser steht bei mir im Keller nun schon mehr als ein dreiviertel Jahr 50 Zentimeter hoch im Keller.“ Ohne ständiges Pumpen würde es noch viel höher steigen. Die Heizung habe er schon weiter nach oben gestellt, jetzt komme auch der Warmwasserboiler dran.

Bei vielen Familien im Oderbruch sieht es noch viel schlimmer aus. Rund 20 000 Menschen leben hier. Die Hälfte aller Keller im rund 20 000 Bewohner zählenden Landstrich steht dauerhaft unter Wasser. Es frisst die Häuser buchstäblich auf. Die Feuchtigkeit steigt durch das Mauerwerk hoch, überall breitet sich Schimmel aus, Telefonanlagen werden durch Korrosion außer Betrieb gesetzt. Und überall ist der Standardsatz zu hören: „So etwas haben wir noch nie erlebt.“ Meistens rollen danach Tränen über die Wangen.

Die Suche nach dem Grund für die Überflutungen in dem 60 Kilometer langen und 20 Kilometer breiten Oderbruch führt zunächst zu den Wetterbeobachtern. Fast die dreifache Menge des sonst üblichen Niederschlages sei im vergangenen Jahr gefallen, heißt es dort. Was davon nicht verdunstet ist, verblieb im Untergrund, der heute wie ein nasser Schwamm anmutet. Das wäre normalerweise kein großes Problem, wird die landläufig als Badewanne bezeichnete 70 000 Hektar große Niederung doch durch 1500 Kilometer lange Gräben entwässert. Das geht im größten Teil noch auf den Preußenkönig Friedrich II. zurück, der ein neues Bett für die Oder graben ließ, damit die Region trockenlegte und so eine fruchtbare „Provinz im Frieden eroberte“, wie er verkündet haben soll.

Doch in den zurückliegenden Monaten klappte es mit der Entwässerung des Bruchs überhaupt nicht. „Die Alte Oder und die sich anschließende Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße wurden ihr Wasser nicht los, weil die große Oder selbst Hochwasser führte“, erklärt der Chef des Landesumweltamtes, Matthias Freude. „Starker Nordwind drückte das Wasser vom Stettiner Haff weit landeinwärts.“ Anfang Dezember begann dann die Eiszeit auf dem Grenzfluss, und heute steigen die Pegel durch das Schmelzwasser schon wieder an.

Pflanzenhändler Frank Schütz und viele andere Bewohner geben sich damit nicht zufrieden. „Das Grabensystem und die Alte Oder sind in den vergangenen 20 Jahren vernachlässigt worden“, sagt Schütz. „Es stand zu wenig Geld zur Verfügung.“ Dazu komme die starke Verbreitung des Bibers, der den Deich immer wieder durchlöchere und Gräben beschädige. Straßen, Radwege und Grundstücksauffahrten blockieren heute viele Gräben. Keiner hatte offenbar geglaubt, dass das Entwässerungssystem einmal überlebenswichtig sein würde. Stattdessen vertraute man den Klimaforschern, die vor der Versteppung auch des Oderbruchs warnten.

Frank Schütz glaubt, dass das so stark in Bedrängnis geratene Oderbruch in der Brandenburger Öffentlichkeit zu wenig Aufmerksamkeit erhält. „Dabei steht unsere Zukunft auf dem Spiel. Niemand will mehr hierherziehen, während alteingesessene Bewohner nur unter größten Entbehrungen aushalten.“ Für die Stimmung sei der Umsatz im Blumenhandel der beste Maßstab. „Blumen bedeuten Freude und Luxus. Davon kann im Moment im Oderbruch nicht gesprochen werden.“

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