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Ausstellung in der Potsdamer Leistikowstraße: „Es gibt ein Kind, du musst es holen“

Geschätzt 200 Kinder wurden nach 1945 in sowjetischen Straflagern geboren. Jetzt gibt es dazu in der Gedenkstätte Leistikowstraße eine Ausstellung – und einen neuen Dokumentarfilm.

Potsdam - Manchmal lag sie nachts wach, auf der mittleren Pritsche des Etagenbettes, und wurde die Gedanken nicht los. „Wie soll es weitergehen? Keiner weiß, wo du bist und dass du ein Kind erwartest“. Christa Kirchner ist damals eine junge Frau, verhaftet kurz nach Kriegsende von den Russen, weil sie von der angeblichen Spionage ihres Mannes gewusst haben soll. Der war Journalist, das war den Russen Grund genug, ihn abzuholen. Und auch seine Frau. Im Lager Sachsenhausen bringt sie 1946 ihre Tochter Barbara zur Welt. Beide haben großes Glück und überleben. Ihre Geschichte und weitere Schicksale werden in dem Film „Geboren hinter Gittern“ erzählt, der am heutigen Mittwochabend in der Gedenkstätte Leistikowstraße gezeigt wird – zur Eröffnung einer Sonderausstellung zum Thema.

Das ehemalige Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes NKWD, in dem sich heute die Gedenkstätte befindet, war auch für einige der Frauen im Film der Ort, an dem ihr Albtraum begann. „Es ist bekannt, dass fünf schwangere Frauen die Untersuchungshaft im Gefängnis Leistikowstraße durchstehen mussten. Die Kinder wurden entweder im Speziallager Sachsenhausen oder auf dem Transport in eins der sowjetischen Gulag-Lager geboren“, sagt Ines Reich, Leiterin der Gedenkstätte. Lange Zeit wusste man wenig über solche Schicksale. Erst seit den letzten Jahren wird dazu verstärkt geforscht. Der Potsdamer Filmemacher Hans-Dieter Rutsch hat jetzt schon den zweiten Dokumentarfilm dazu produziert. Das Thema, sagt er, hat ihn nicht losgelassen. Immer tiefer tauchte er ein in die Schicksale der Menschen, die lange Zeit darüber weder reden durften noch wollten. „Im Osten war das Reden darüber verboten, im Westen wollte es keiner hören“, sagt Rutsch.

Russische Speziallager in ehemaligen Konzentrationslagern

Insgesamt 120 000 bis 180 000 Menschen, die aktuellen Schätzungen variieren, wurden von 1945 bis 1950 vom russischen Geheimdienst für „Vergehen“ aufgrund von Missverständnissen oder wegen Denunziationen von der Straße weg verhaftet; es genügte, Mitglied einer Nazi-Jugendorganisation gewesen zu sein. Sie landeten in einem von zehn Speziallagern des russischen Geheimdienstes, die praktischerweise zumeist in ehemaligen Konzentrationslagern eingerichtet wurden. Mindestens ein Drittel von ihnen starb unter den elenden Bedingungen.

Fünf Prozent der Inhaftierten waren Frauen. Manche von ihnen wurden schwanger verhaftet oder sie wurden es im Lager. Aber Kinder im Lager waren nicht vorgesehen. „Sie existierten praktisch nicht, sind in keinen Dokumenten der Lagerleitung verzeichnet“, sagt Rutsch. Meist wurden erst nachträglich Geburtsurkunden für die Kinder ausgestellt. Und doch versuchten sie, eine Art Alltag zu leben, lernten laufen zwischen Baracken und Stacheldraht, wie eine Frau sagt. Christa Kirchner erzählt im Film, wie ihr „Schwester Gerda“ bei der Geburt beisteht, einen alten Kohlenkorb als Bettchen zurecht macht. Aus der Kleidung verstorbener Frauen nähen sie Windeln und Babysachen. Sie müssen erfinderisch sein. „Wir kratzten Kalk von den Barackenwänden, zerrieben ihn ganz fein und mischten ihn den Kindern ins Fläschchen, damit sie Zähnchen bekamen“, sagt sie. Doch viele Kinder werden den Frauen später weggenommen, landen in Heimen, während ihre Mütter weiterhin inhaftiert bleiben. „Manches sind ganz wirre, verzwickte Schicksale“, sagt Rutsch.

Trotzdem eine schöne Kindheit

Mindestens eines davon hat mit dem Untersuchungsgefängnis der Russen in Potsdam zu tun. Hier nämlich entdeckt die erwachsene Annemarie Link aus Berlin, 1949 in Sachsenhausen geboren, Dokumente über Erna Dachs, die Frau, die sie aufzog und die für sie Mutter war. Erna und vielleicht auch ihre leibliche Mutter Gerda waren zuerst in Potsdam inhaftiert, später in Sachsenhausen. Dort stirbt Links leibliche Mutter nach der Geburt und Erna Dachs, die zuvor ein Kind verloren hat, nimmt die kleine Annemarie als ihr eigenes an. Später kommt Annemarie in ein Kinderheim, Erna Dachs aber kann ihrer großen Tochter nach draußen schreiben: Es gibt ein Kind, du musst es aus dem Heim holen. Das klappt, Annemarie kommt zur Großmutter und wächst auf dem Land auf. 1955 kommt Erna Dachs frei und geht mit Annemarie nach Berlin. Annemarie Link, sagt Rutsch, „hatte eine schöne Kindheit“. Sie weiß um ihre zwei Mütter und stellt später sogar für beide Frauen – in den 1970ern stirbt auch Erna Dachs – in Moskau einen Antrag auf Rehabilitierung.

Rutsch erzählt im Film insgesamt fünf Geschichten. Zwei Jahre dauerte die Recherche, er begleitete die Menschen dabei auch an die Orte der Erinnerung. Erinnern fällt den Betroffenen oft schwer, das spürt man im Film. Alexander Latotzky, geboren in Bautzen und dann nach Sachsenhausen verlegt, steht zwischen den Lagerbaracken und sagt: „Ich wusste manchmal nicht, sind es echte Erinnerungen? Oder nur schlimme Träume?“ Als Annemarie zur Jugendweihe gehen soll, besucht sie mit der Schulklasse das Lager Sachsenhausen. Ihre Zieh-Mutter sagt ihr damals, sie möchte nie wieder dorthin. Christa und Barbara Kirchner allerdings schaffen es, Jahrzehnte später noch einmal gemeinsam nach Sachsenhausen zu fahren. Nach Jahren des Schweigens ist das Reden über die Vergangenheit dann oft Erleichterung. Viele ehemalige Insassen pflegen zudem enge Verbindungen untereinander, sagt Rutsch. „Sie sind wie eine große Familie.“

Die Ausstellung ist bis zum 5. Juni in der Gedenkstätte Leistikowstraße zu sehen. Geöffnet Dienstag bis Sonntag von 14 bis 18 Uhr. Bei der Eröffnung heute Abend um 18 Uhr sind Annemarie Link, Alexander Latotzky und Hans-Dieter Rutsch zu Gast. Der Film „Geboren hinter Gittern“ wird heute Abend und am 1. März im RBB gezeigt.

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