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Landeshauptstadt: Flugblätter aus dem Warenhaus

Sonntagsvorlesung zu den Ereignissen um den Prager Frühling

Sonntagsvorlesung zu den Ereignissen um den Prager Frühling Der 21. August 1968! Der Prager Frühling war schon lange kein tschechischer Konflikt mehr, die siebente Panzerdivision der Nationalen Volksarmee (NVA) stand kurz vor der Grenze zur CSSR, bereit, dem Marschbefehl aus Moskau zu folgen. Die Sowjetarmee besetzte innerhalb weniger Stunden die gesamte Tschechoslowakei. Und in den Gemeinden der DDR diskutierte man, jedoch nur mit vorgehaltener Hand, über Recht und Unrecht der Aktivitäten um Alexander Dubcek. Der 1. Februar 2004! Noch immer beschäftigen sich Deutsche mit dem Prager Frühling, hinterfragen, diskutieren, forschen. Der Saal im Alten Rathaus war gut gefüllt, das Interesse am damaligen Widerstand in der Bevölkerung der damaligen DDR und der NVA groß. Referent Rüdiger Wenzke, langjähriger Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes beschränkte sich in seinem Vortrag nicht nur auf das Verhalten in den DDR-Streitkräften, sondern beschrieb auch die Aktivitäten in der Bevölkerung. So flatterten am 28. August 1968 aus einer Zwischenetage des Konsument-Warenhauses in der Klement-Gottwald-Straße hunderte Flugblätter auf den „Broadway“, in denen zum Widerstand gegen die offizielle Meinung der DDR – die Staatsführung unterstützte das sowjetische Vorgehen im Nachbarland – aufgerufen wurde. „Zentrale Widerstandsorte waren aber nicht nur die Bezirksstädte, sondern auch viele kleinere Gemeinden“, so Wenzke. Die Zahlen, die Forscher Wenzke sachlich referierte, ließen die Ausmaße erkennen: Über 500 strafrechtliche Ermittlungen wurden im Rahmen des Prager Frühlings geführt, 3300 SED-Mitglieder bekamen Disziplinarmaßnahmen der Partei zu spüren, 278 Ausschlüsse gab es. „Die Konsequenz: Probleme im privaten Bereich und an der Arbeitsstelle. Die Abstrafungen für Abweichler in der NVA waren ungleich härter, so fand Rüdiger Wenzke heraus. Die Position der Armeeführung war eindeutig: „Das Handeln der sozialistischen Staaten findet volle Zustimmung“, hieß es am 21. August, als die Sowjetarmee einrückte. Prominentestes Beispiel im Widerstand der NVA war Oberstleutnant Werner Mantzsch. Er hatte sich auf einer Parteiversammlung kritisch zum sowjetischen Eingriff in tschechoslowakische Belange geäußert. Die erst verhängte Parteistrafe reichte dem damaligen Verteidigungsminister Heinz Hoffmann nicht aus. Mantzsch wurde der Offiziersdienstgrad aberkannt, wegen „politischer Unzuverlässigkeit, parteischädigendem Verhalten und pazifistischen Tendenzen“ aus der NVA entlassen. Insgesamt gab es 234 Fälle in der NVA, bei denen im Zusammenhang mit Äußerungen zum Prager Frühling Disziplinarmaßnahmen oder Parteistrafen angewandt wurden. Ein Geheimnis konnte jedoch auch Rüdiger Wenzke nicht lüften: Es gebe nur Vermutungen, wieso schließlich die NVA doch nicht in Divisionsstärke beteiligt wurde, so der Forscher. Nur wenige Soldaten waren am Einmarsch beteiligt. Am wahrscheinlichsten, so Wenzke, sei es, dass in der Sowjetführung zumindest Gespür dafür geherrscht habe, wie unklug es gewesen wäre, deutsche Soldaten wieder in die Tschechoslowakei einmarschieren zu lassen. „Außerdem hat das schnelle Eingreifen der Sowjetarmee die NVA-Beteiligung schließlich erübrigt.“Kay Grimmer

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