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Von Sabine Schicketanz: Im Licht, im Schatten

Potsdam glänzt, auch 2009 wieder. Doch der Stadt fehlt die Vision. Eine Betrachtung

Ein Mittwochabend Ende November. Ein Vierjähriger liegt wimmernd in einem Gebüsch. Das Kind ist kaum bekleidet. Nachbarn finden den Jungen in der Dunkelheit. Seine 26-jährige Mutter hatte ihn allein in der Wohnung im vierten Stock gelassen. Er fällt vom Balkon. Wie durch ein Wunder bricht er sich nur ein Bein.

Ein Vormittag, fünf Tage vor Heiligabend. Polizisten laufen mit gesenkten Köpfen durch den Schnee. Sie suchen die Leiche eines Neugeborenen. Der Säugling sei tot gewesen, als sie ihn zur Welt gebracht habe, wird die Aussage der 33-jährigen Mutter wiedergegeben. Bis heute ist der Leichnam nicht gefunden.

Menschliche Tragödien, die allerorten geschehen. Aufsehen erregen. Hilflos verfolgt werden. Tragödien, die scheinbar nicht nach Potsdam passen. Die Sanssouci-Stadt, die sorgenfreie Zone.

Wo Licht ist, muss auch Schatten sein?

Potsdam glänzt, auch 2009 wieder. Das Schloss ist entworfen, der erste Spatenstich naht. Die Operation am offenen Herzen der Stadt steht vor ihrer Vollendung, ist Stück für Stück schon jetzt täglich zu erleben, beim Spaziergang an der Baugrube, beim Blick aus der Tram oder dem Auto über die Lange Brücke. Sightseeing für Einheimische und für Besucher. Aus den Ruinen der Speicherstadt, den alten Industriedenkmälern, an deren Verfall man sich zwei Jahrzehnte schon fast gewöhnt hatte, werden plötzlich edle Quartiere, Eigentum verkauft sich hier wie anderswo die warmen Semmeln. Gleich nebenan dürfen Architekten am Brauhausberg ein ganzes Viertel neu entwerfen, eine Synagoge wird gebaut, Millionen fließen in den Wiederaufbau der Garnisonkirche. Wer hätte das gedacht, vor zwanzig Jahren, dass Potsdam einmal all seine verlorenen Wahrzeichen wiedererhält, die die Silhouette dieser Stadt über Jahrhunderte prägten.

Die Innenstadt behält trotz Konzern- Pleite ihr Karstadt-Kaufhaus, an der Glienicker Brücke stehen die Menschen vor dem „Freiheitsmuseum“ Villa Schöningen Schlange. In Babelsberg bevölkern zur Bambi-Verleihung Stars den roten Teppich, die besten Taxifahrer Deutschlands sind Potsdamer, ein modernes Schwimmbad an der Biosphäre ist geplant und für die Platte naht Rettung: Drewitz, Stadtteil im sozialen Abseits, soll Gartenstadt werden.

Wo Licht ist, muss auch Schatten sein?

Täglich essen 160 Potsdamer Kinder ihr Mittagessen in der Arche. Kostenlos. Das christliche Kinder- und Jugendwerk bietet seine Dienste seit September in Drewitz an, in der Halle eines ehemaligen Getränkemarktes. Das Personal und die Betriebskosten zahlt Günther Jauch, der Fernsehjournalist, der Potsdamer, der jetzt nicht mehr in Steine, sondern in junge Köpfe investiert. Ein paar Straßenecken weiter kümmert sich die Arbeiterwohlfahrt um die Kinder vom Stern. Schulleiter klagten, ihre Schüler litten Hunger, weil sich die Eltern das Schulessen nicht leisten könnten. Seitdem versorgt die „Spirelli-Bande“ mit kostenlosem Mittagessen. Knapp 2400 Kinder zwischen null und sechs Jahren leben in Potsdam von Hartz IV – das entspricht einem Viertel aller Kinder dieser Altersgruppe.

Wo Licht ist, muss auch Schatten sein?

Wie schön, wie schön, murmeln die Touristen auf den Straßen der barocken Innenstadt, den Schotterwegen der Schlossparks. Viele ziehen gleich her, die Zahl der Einwohner steigt auch 2009. Mit den Neu-Potsdamern wächst der Mangel. Familien suchen bezahlbare Wohnungen, stehen auf Wartelisten für einen Platz in der Kindertagesstätte, finden keine nahegelegene Schule für die Kinder.

Zu knapp alles, meinen auch Jugendliche. Der Spartacus-Klub geschlossen, die alternative Schiffbauergasse totsaniert, das „Archiv“ wegen Baufälligkeit teilweise gesperrt. Pläne für das Jugendareal „Freiland“ wabern das ganze Jahr durch die Stadt, Politiker, Jugendliche begeben sich auf die Suche nach der Soziokultur. Ein Ergebnis gibt es nicht, kaum einen Stand der Debatte.

Wo Licht ist, muss auch Schatten sein?

Historie und Hartz IV, Platte und Prunk, Glamour und Gemütlichkeit: Potsdam birgt größtmögliche Spannung auf kleinstem Raum. Ist die Stadtpolitik, traditionell eher provinziell, den Wechselspielen gewachsen? Zu Hochform läuft das Rathaus unter Führung von SPD-Oberbürgermeister Jann Jakobs seit Jahren auf, wenn es um den Uferstreit am Griebnitzsee geht. Bilanz 2009: Der Uferweg über Privatgrund ist abgesperrt, der Stadt werden politische Fehleinschätzungen und handwerkliche Fehler ins Stammbuch geschrieben. Aber darüber regen sich in der Stadtpolitik nur wenige auf. Trotz der Rathauskoalition im Stadtparlament, mit der die starke linke Opposition ins Abseits geraten ist, trotz der bunteren Beigeordnetenriege, selbst im Angesicht des Oberbürgermeister-Wahljahres 2010 – Visionen sind Mangelware, man übt sich im Verwalten, vernachlässigt das Gestalten. Der Nachbar Berlin, das wissen alle, ist arm, aber sexy. Und Potsdam, was ist Potsdam?

Ist Licht, ist Schatten.

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