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Landeshauptstadt: „Ob die anderen es besser machen “

Der 101-jährige Wilhelm Hamann würde Einsparungen begrüßen: „Es wird auf zu großem Fuß gelebt“

Der 101-jährige Wilhelm Hamann würde Einsparungen begrüßen: „Es wird auf zu großem Fuß gelebt“ Von Kay Grimmer Einhundertein Jahre gesammelte Erfahrungen, ungezählte Kreuzchen auf Wahlzetteln! Die kommende Abstimmung sollte einem gestandenen Wähler wie Wilhelm Hamann doch keine Schwierigkeiten machen, oder? „Also ich weiß nicht, was ich wählen soll“, gibt der 101-Jährige gleich zu Beginn zu. Was nicht heißt, dass er seine Stimme verschenken wird. „Ich habe immer gewählt“, sagt Wilhelm Hamann. Und auch zu dieser „Richtungswahl“ wird er wieder gehen, seine Stimme wohl dem geben, der einen Sparkurs verordnet. Denn: „Es wird auf zu großem Fuß gelebt“, meint Hamann, wenn er auf sein bisheriges Leben zurückblickt und das mit der heutigen Zeit vergleicht. Der 1904 in Forst Geborene stammt aus einer Händlerfamilie, hat eine kaufmännische Lehre absolviert und bis zum 75. Lebensjahr stets in der Branche gearbeitet. Nun lebt er im Potsdamer Seniorenzentrum „Hasenheyer-Stift“. Finanzen gehören zu seinem Leben. Genauso wie Sparsamkeit. „Es muss ganz gewaltig gespart werden, an allen Ecken und Enden“, ist er sich sicher. Und nimmt seine Altersgemeinschaft der Senioren nicht aus. „Einige, mit wenig Rente, haben es heute sicherlich schwer, gerade, wenn sie einen Platz im Seniorenheim bezahlen müssen.“ Aber es gebe auch genügend Rentner mit einer hohen Pension, zusätzlichen Zahlungen und einer Versicherung, die den Pflegeplatz komplett übernehmen. „Die haben so viel, dass die Kinder das Geld abholen“, schüttelt er den Kopf. Solange sich noch viele Rentner ausgedehnte Auslandsurlaube leisten können, gebe es Einsparmöglichkeiten für den Staat. „Ich bin auch ohne große Reisen 101 Jahre alt geworden.“ Nachdem 1988 seine Frau gestorben war, holte ihn eines seiner drei Kinder aus Zerbst nach Potsdam ins Hasenheyer-Stift. Seine Ersparnisse sind durch die im Laufe der Jahre gestiegenen Heimpreise aufgebraucht, nun lebt er vom Sozialhilfesatz. Entbehrungen sind für Wilhelm Hamann nichts Neues. Die Inflation in den 20er Jahren nahm der Kaufmanns-Familie alle Ersparnisse. Als Vater stellte er eigene Wünsche hinten an, wollte die „beste Ausbildung“ für seine Tochter und die beiden Söhne. Gleiches, glaubt Wilhelm Hamann, ist heute noch wichtiger geworden: „Die Jugend braucht eine bessere Ausbildung. Die Technik geht immer weiter. Und nur die Besten werden überhaupt noch Arbeit finden.“ Als der bereits zum Kaufmann ausgebildete Hamann nach dem II. Weltkrieg und aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte, war die Rückkehr in das vom Vater übernommene Groß- und Einzelhandelsgeschäft ausgeschlossen. „Die Russen haben ja alles verstaatlicht.“ Wie viele musste er sich neue Arbeit suchen. Hamann zog mit seiner Frau nach Zerbst, zu den Schwiegereltern. Dort war er Mitbegründer einer Einkaufsgenossenschaft für die Schuhmacherzunft. „Die Regale waren leer, nur ein Stück dicker Hartgummi für Schuhsohlen lag da.“ Gegen Gemüse aus dem Garten des Schwiegervaters tauschte er Schustermaterialien. Die DDR subventionierte den Gemüseanbau dermaßen hoch, dass mancher das Grünzeug im Laden zum Einheitspreis kaufte und an der Annahmestelle wieder verkaufte – mit Gewinn, erzählt Wilhelm Hamann. „Überhaupt, die DDR musste zusammenbrechen bei diesen niedrigen Preisen“, blickt er zurück. Doch selbst er, der Handelsfachmann, der im Sozialismus aus dem Nichts einen Innings-Großhandel für Schuster, Polsterer und Sattler hochzog, würde sich an eine Neugründung in der heutigen Zeit nicht mehr heranwagen. „Zu groß ist die Konkurrenz der Konzerne, die den Mittelstand, die kleinen Geschäfte, mit Preisdumping in die Insolvenz treiben.“ Genauso wenig begreift Wilhelm Hamann, wie der Staat es zulassen kann, dass die großen Firmen ins billigere Ausland abwandern. „Aber daran sind auch die Gewerkschaften schuld. Arbeit ist bei uns zu teuer“, vertritt er eine typisch liberale Meinung, eben die des Mittelstands, zu dem er sich immer zählte. „Nach der Wende habe ich gern die FDP gewählt, auch wegen Hans-Dietrich Genscher“, so der 101-Jährige. Das sei ein Politiker mit Format gewesen, „ein fähiger Außenminister“. Dem jetzigen Amtsinhaber Joschka Fischer (Grüne) rechnet er sein souveränes Auftreten an. „Zumindest bis zur Visa-Affäre, die war wirklich dumm.“ Auch an Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) schätze er sein Auftreten im Ausland. „Das wird Angela Merkel (CDU) schwerer fallen“, glaubt der politisch Interessierte. Die aktuellen Probleme des Landes spürt Wilhelm Hamann, hört sie jeden Morgen im Radio, liest über sie täglich in der Zeitung, informiert sich im Fernsehen. Doch ist ihm noch immer nicht klar, wie die richtige Wahl aussieht. Denn: „Ob die anderen es besser machen, ist dann immer noch die zweite Frage “

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