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Kultur: Alles wird anders

Die „Sehsüchte“ haben sich gewandelt, die Eröffnung war etwas unkonventioneller als üblich

Die „Sehsüchte“ haben sich gewandelt, die Eröffnung war etwas unkonventioneller als üblich Von Jan Kixmüller Alles wird anders. Das haben sich die Filmstudenten der HFF für das diesjährige Filmfestival „Sehsüchte“ gedacht. Und alles war auch ein wenig anders. Vor dem Thalia Kino parkt zur Eröffnung des Festivals ein Wagen mit merkwürdigem Nummernschild. Er bringt den Botschafter der Volksrepublik China. Über Rollrasen schreitet er ins Kino, um später den Fokus China einzuleiten. Der Rasen ist eine Replik an den Frühling. Oder vielleicht auch eine Verbeugung vor der Wiese am Studiokino, in dem jahrelang das Festival stattfand. Der Rasen zieht an, erste Pärchen haben es sich schon bequem gemacht. Im Kinosaal laufen derweil die Kameras. Die chinesischen Filmemacher überschlagen sich mit Interviews, wild knipsen ihre Digi-Cams. Auf der Bühne schiebt ein langhaariger Putzmann einen Eimer umher. Klar, der gehört dazu, das ist der Selbstdarsteller, der im Festival-Clip mit dem Wischmopp stript. Zusammen mit der etwas konsterniert wirkenden Sandy wird er als „Hygienebeauftragter“ durch den Abend führen. Immer hart an der Grenze zum Klamauk, auch zum Geschmacklosen. Schmierig anzüglich, sich die Brustwarzen reibend, taucht er wieder auf der Leinwand auf, züngelt wild ins Publikum und raunt das diesjährige Motto durch die Peep-Show-Klappe: „Wir geben alles!“ Studenten geben nicht nur alles. Sie dürfen auch alles. Wissenschaftsministerin Johanna Wanka lässt sich von dem etwas unkonventionellen Abend nicht aus der Fassung bringen. Ihre Frisur ist vielleicht ein Tick wilder als üblich. Aber sie behält Contenance: Sachlich lobt die Schirmherrin das studentische Festival mit weltweiter Ausstrahlung und verspricht dem Medienstandort gleich noch eine blühende Zukunft. Der „einfache Arbeiter im Weinberg der HFF“, so die Moderation, HFF-Präsident Prof. Dieter Wiedemann leistet sich dann – wie jedes Jahr – einen Fauxpas. Die „Sehsüchte“ würden mittlerweile in der Championsleague spielen, während Potsdam nicht einmal ein Fußballverein in der Bundesliga habe. „Doch, Turbine!“ tönt es erzürnt aus dem Publikum. „Das ist aber keine Männermannschaft“, kontert Wiedemann holprig. Einen Wunsch hat er schließlich noch: dass die „Sehsüchte“ im kommenden Jahr wieder auf dem Studiogelände stattfinden. Der Rollrasen hat ihn offensichtlich an etwas erinnert. Die Eröffnungsfilme fallen diesmal nicht so sensationslüstern oder irritierend aus wie in manchen Jahr zuvor. Erstaunlich viele Animationsfilme sind dabei, niedliche und anrührende Geschichten von Liebe, vom Verlorengehen und Wiederfinden. Zum Teil künstlerisch sehr anspruchsvoll, etwa der polnische Film „Dunia - there and again“ (Samstag 18 Uhr, Thalia 1): die Geschichte eines kleinen Mädchens am Rande der Welt, wie ein sich bewegendes Gemälde auf die Leinwand gebracht. Interessant der Dokumentarfilm „Wir haben eine Stadt gebaut“ von der HFF (gleicher Termin): Arbeiter einer Baubrigade, die einst Plattenbauten errichtet haben, sind heute dabei, sie wieder zurückzubauen. Alles wird anders. Bei so viel Umbrüchen kann auch die Gala-Feier nicht wie gewohnt verlaufen. Im haushohen Betonfoyer der HFF liegen Rollraseneckchen aus, Bierbänke, Zelte und Campinggestühl sind verteilt. Kein Buffet. Irgendwo gibt es Picknickkörbe und Decken. In den Körben stecken Baguettes, Karotten, ganze Gurken, dicke Tomaten, harte Eier und Bouletten. Keiner lässt sich die Überraschung anmerken. Die Gala-Gäste schieben mit ihren Körben durchs Gemenge, als würden sie nie etwas anderes tun. Man sucht sich ein Plätzchen, um die Decke auszubreiten, schnippelt Gurken, schmiert Stullen. Erstaunlich, wie schnell sich der Mensch an die ungewöhnlichsten Situationen anpasst. Vor allem, wenn er Hunger hat. Eine merkwürdige Stimmung liegt über dem Abend, leicht ins Surreale gekippt. Die Chinesen sind begeistert, essen Karotten und filmen alles. Zurück in China können sie dann von den eigenartigen Gepflogenheiten der Deutschen berichten.

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