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DER REGISSEUR: Den Osten vergessen

16 Jahre nach einer missglückten Flucht in den Westen: Das 121. Potsdamer Filmgespräch zeigte berührenden Dokumentarfilm

DER REGISSEUR16 Jahre nach einer missglückten Flucht in den Westen: Das 121. Potsdamer Filmgespräch zeigte berührenden Dokumentarfilm Von Marion Hartig Eine belastende Erinnerung. Im Wald an der Grenze von Tschechien zur BRD. Der Mann läuft vor, die Frau dicht hinter ihm. Über Stacheldraht und Baumstümpfe. Immer weiter. Nicht umdrehen. Plötzlich der Hund, dann die von allen Seiten auftauchenden Grenzsoldaten. Vorbei. Die Flucht missglückt. Die beiden müssen sich auf den Boden legen. Man verbindet ihnen die Augen, legt ihnen Handschellen an. Sechzehn Jahre später. Der Mann und die Frau sind zum ersten Mal an diesen Ort zurückgekehrt, suchen im Wald an der tschechischen Grenze die Stelle von damals. Susanne Stochay und Matthias Melster. Heute Ende 30, wohnhaft in Berlin. An dem Fluchttag im April 1987 trennten sich ihre Wege. Erst die Zeit im Knast. Danach haben sie sich einmal getroffen und lustige Haft-Geschichten ausgetauscht. Im Wald nimmt er sie nun in den Arm, weint. Sie stockt, geht einen Schritt zurück. Ringt sich zu einem gequälten Lächeln durch. Die Bilder auf der Leinwand führen ganz nah an die beiden heran, zeigen ungeschönt und unverstellt, was sich auf ihren Gesichtern abspielt. So wie es Thorsten Trimpop von der Potsdamer Filmhochschule in seinem Dokumentarfilm „Der irrationale Rest“ insgesamt außergewöhnlich gut gelingt, die Innenwelten seiner drei Protagonisten, Susanne, Matthias und dessen im Osten gebliebener Ex-Freundin Suse, an die Oberfläche zu holen. Man fühlt mit, meint zu verstehen und wird darauf gestoßen, dass 16 Jahre keine lange Zeit sind und die Vergangenheit längst nicht vergangen ist. Für die Protagonisten nicht – und auch sonst nicht. „Der irrationale Rest“ entstand als Auftragsarbeit für das ZDF, erzählt Trimpop beim 121. Filmgespräch im Filmmuseum am Dienstagabend. Er lief auf der Berlinale und steht im Dezember im deutschen Fernsehen auf dem Programm. Ein Filmverleih ist daran interessiert, ihn in die Kinos zu bringen. Mit Susanne Stochay sitzt der junge Regisseur im Podium. Das Gespräch wird von RBB-Moderator Knut Elstermann geführt. Auf die Geschichte sei er gestoßen, als er sich das ehemalige Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen ansah, erklärt Trimpop. Matthias habe dort Führungen gemacht. Ein Mensch, der immer wieder seine Vergangenheit erzählen muss – das fand er spannend. Sie lernten sich kennen. Der Student machte mit dem Dauer-Erzähler seiner DDR-Vergangenheit einen ersten kleinen Dokumentarfilm, 15 Minuten über sein Leben. Doch das war ihm nicht genug. Trimpop rief Susanne an. „Ich komme aus dem Westen, lebe im Osten und will verstehen, wie das früher war“, sagte er zu ihr. Das überzeugte sie. Endlich jemand, der sie verstehen will. Eigentlich hatte sie den Osten vergessen wollen. Trimpop führt seine Erzähler an die Orte der gemeinsamen Vergangenheit. In die alte Plattenbauwohnung, in das ehemalige Gefängnis in Hohenschönhausen, in die Schule, die Suse nach dem Fluchtversuch der Freunde gefeuert hat. Gewollte Inszenierungen, um die Drei zu überraschen und Gefühle zu wecken, sagt der Regisseur. Und das Konzept ist aufgegangen. Starke Bilder, als Susanne in der Stasi-Behörde aus ihrer Akte liest. Von einer grünen Socke, die nach der Flucht am falschen Ort gelandet ist und den Stasi-Dokumentaristen mehrere Schreiben wert ist. Susanne lacht, kann nicht mehr aufhören. Und würde wohl eigentlich lieber weinen. Wie eine Nachrichtensprecherin trägt sie den Brief ihrer Eltern vor: „Wir finden den Fluchtversuch unserer Tochter nicht richtig und verabscheuen ihn als Straftat“. Mehr erfährt man nicht über ihre Familie. DDR-Filmaufnahmen werden eingeblendet, zeigen Ausschnitte aus dem früheren Leben der Drei. Susanne bei der Einschulung. Ab diesem Tag wollte sie ein fröhlicher Jungpionier mit weißem Hemdkragen und blauem Halstuch werden. Fotos von Suse und Matthias. Ihn erkennt man kaum wieder. Dunkle Locken, weiches Gesicht. Heute ist sein Haar stoppelkurz, er trägt Dreitagebart, sein Gesicht wirkt kantig. Die Zuschauer wollen wissen, warum die Freunde nie wieder Kontakt aufgenommen haben. Sie fühlt nichts mehr für Suse, sagt Susanne. Für sie sei die Freundin Täter. Suse habe einen Bekannten an die Stasi verraten und ihr das in die Schuhe geschoben. Ihre Stimme stockt. Man spürt, die junge Frau hat die Geschichte nicht ad acta gelegt. Sie hat sie nur tief genug verdrängt, jetzt kommt sie langsam wieder nach oben. Genau das macht die drei Film-Gestalten so spannend. In dem Augenblick, in dem die Kamera sich auf sie richtet, kommt etwas in ihnen in Bewegung. „Der irrationale Rest“ fängt an mit dem Bild, mit dem der Film auch aufhört. Zwei Frauen, ein Mann, das rauschende Meer. Die drei Gesichter sind in die Ferne gerichtet. Wind, Wellen, kreischende Möwen. Sie haben sich heute nichts mehr zu sagen. Thorsten Trimpop (Jahrgang 1973) wuchs in Lüdenscheid im Sauerland auf. Während seines Zivildienstes arbeitete er mit Flüchtlingen und reiste danach einige Monate durch Afrika. Er studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Universität Siegen, war damit nicht glücklich und machte eine Schauspielerausbildung an der Akademie für Darstellende Kunst in Ulm. Seit 2000 studiert er Regie an der Filmhochschule Babelsberg. Er drehte einige Kurzfilme und inszenierte das Theaterstück „Mutter und Sohn“ am Berliner Maxim-Gorki- Theater. Thorsten Trimpop lebt in Berlin. Maha

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