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Kultur: Manchmal Champagner, manchmal lauwarmes Bier

Mary gastierte im Nikolaisaal – und wurde gefeiert

Mary gastierte im Nikolaisaal – und wurde gefeiert Bei Mary muss man wissen, worauf man sich einlässt: Gemütsempfindliche Zuschauer sollten tunlichst die vorderen Reihen meiden und auch der Rest des Saales nicht zu sehr auf die Grenzen des Anstands pochen. Mary, die frivole Kodderschnauze, haut drauf, wo immer sie Angriffsflächen wittert. Ist man gerade innerlich brüskiert über ihren allzu groben Faustkeil, setzt sie indes schnell mit feiner Klinge nach – und erobert schließlich doch den Großteil der Herzen. Der Montagabend im ausverkauften Nikolaisaal wird in jedem Fall zu einer Achterbahn der Gefühle. „Ich bin hier!“ singt „der Mary“ selbstbewusst im hochgeschlitzten, schwarzen Etwas und nimmt in dieser „Ouvertüre“ das Gefühl des Abends vorweg: Gereicht wird „manchmal Champagner und manchmal lauwarmes Bier“. So verlief auch das Leben des oft angefeindeten und inzwischen gefeierten Travestie-Künstlers, der seine Würze aus der Melange des nachdenklichen Poeten Georg Preuße und der Bühnen-Furie Mary bezieht. Diese weiblich-kokette Erscheinung mit falscher Brust und falschem Haar zieht gegen die ganze Welt zu Felde: versendet ihre Giftpfeile gegen Merkel und Camilla, Schröder und Udo Jürgens, gegen die Zuschauer – und landet doch immer wieder bei sich selbst. Das lässt verzeihen. Sie weiß um ihr Alter. „Ich komme im Badezimmer nicht an der knittrigen Frau vorbei, deren Falten nur noch von Rudi Carrell zu toppen sind. Aber die Bäume werden bunter, wenn der Herbst erst kommt – ja und ich bin eben schon der Spätherbst“, kokettiert sie immer wieder mit den eigenen Jahren. Die „fünf Kilo Schminke“ sind allerdings gut verteilt und es ist durchaus ein Genuss, diesem „zwittrigen Wesen“ in Glamourobe zuzuschauen, das die Verwandlungskunst zu nehmen versteht. Am Eindringlichsten wird Mary, wenn sie ihre mitunter ausufernden zotigen Schenkelklopfer um Viagra, fette Bäuche und „schweinsdumme“Männer beiseite lässt und zu singen beginnt– feinsinnig begleitet von ihrem Pianisten Harry Ermer. Mary geistert durch den Prominentendschungel, attackiert das Lügengespinst der Politiker, hinterfragt Gesundheitsreform, braune Gedanken, abgestumpftes Zuschauen auf verhungernde Kinder im Abendprogramm. Was sie zuvor als sprühende Witzkanone wortreich durch den Kakao zieht – und dabei selbst gern über die eigenen Pointen lacht – verdichtet sie kurz darauf in den Liedern zu einfühlsamen Widerhaken. Leute wie sie seien einst eingesperrt und weggeschafft worden. „Wenn gegen andere gehetzt wird, dann müssen wir uns wehren. Das geht uns wirklich etwas an.“ Ihr Leben begann mit einem zerplatzten Gummi – „denn glauben Sie, dass so etwas wie ich ein Wunschkind sei?“ Mit Akne und einer „Stoßstange“ vor den Zähnen durchlitt sie die Pubertät. Keine Disco, kein Kino – dafür Züchtigung und eine Kirche auf dem Hügel, die verächtlich auf sie herab blickte. Anders zu sein, war die schwerste Sünde im Dorf. Dennoch schritt sie mit Grazie durch die Gülle. „Folge den Drängen deines Herzens“ – das ist die Botschaft, die sie kraftvoll-auftrumpfend zur Mitte ihrer sehr persönlichen Show werden lässt, die ländliche Verlogenheit weit hinter sich lassend. Ganz schlicht singt sie vom Tod aidskranker Freunde, die sich in ihren letzten Stunden vergeblich nach einer Umarmung von Vater und Mutter sehnen. Und dann platzt ganz unverhohlen das zweite Gesicht Marys in diese Show zum 30. Bühnenjubiläum hinein: Georg Preuße erscheint im Gold umrahmten Spiegel. Im Duett singen sie „Wir hängen aneinander wie Licht und Schatten“. Doch die hübsche Idee verläuft sich etwas ausufernd in Spannungslosigkeit. Auch nach der Pause gibt es Längen, aber zum Finale zieht Mary um so kräftiger an. Mit dem Charme einer Eliza adaptiert sie das Reutter-Couplet „Nehm s“en Alten“ und die Zuschauer klatschen begeistert mit. Das Nachtleben Potsdams wird sie nach dieser dreistündigen Dauer-Power nicht mehr erleben: „Bis ich abgerüstet bin, liegt Potsdam im Koma.“ Und so fängt die viel gesichtige Entertainerin schon mal auf der Bühne an, sich zurückzuverwandeln: entfernt die falschen Wimpern und die Schminke , lässt die Kleider fallen. Mary verlässt als Georg die Bühne – nicht ohne noch einmal mit rauchiger Stimme zu singen: von der Liebe des Freundes, die ihn so stark macht. Stehende Ovationen für eine „Fata Morgana“ mit tiefer Bodenhaftung. Heidi Jäger

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