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Kultur: Nahes Weißrussland

Das Thalia zeigt den bei den Sehsüchten ausgezeichneten Dokumentarfilm „89 Millimeter“

Sie haben sich den schlimmsten Fall ausgemalt, bevor sie ihre Koffer packten und sich in den Zug nach Weißrussland setzten. Filmtechnik weg und aus dem Land verwiesen. Das hätte auf sie zukommen können, wenn man sie erwischt hätte, wie sie mit jungen Weißrussen ins Gespräch kommen über ihr Land, wie sie mit der Kamera deren Alltag begleiten. Aber das Filmteam um Jung-Regisseur Sebastian Heinzel hat es geschafft, in dem als ausländischen Medien nicht gerade sehr aufgeschlossen gegenüberstehendem Land zu drehen. Und zwar ohne Genehmigung. Obwohl immer wieder die Polizei auftauchte, wurden die Filmemacher nie erwischt, sie konnten immer noch rechtzeitig verschwinden oder die Technik verschwinden lassen, erzählt der Kameramann des Dokumentarfilms „89 Millimeter“ Eugen Schlegel beim Filmgespräch im Thalia am Donnerstagabend. Zu Gast in dem Babelsberger Arthouse ist auch der Berliner Produzent Stefan Kloos.

Zum zweiten Mal läuft „89 Millimeter“ im Thalia. Bei den Sehsüchten im April war Deutschlandpremiere, im Mai internationale Erstaufführung beim One World Festival in Prag. Jetzt ist der mehrfach ausgezeichnete Streifen im regulären Programm des Kinos zu sehen.

Keiner der Zuschauer am Donnerstagabend fragt nach der Bedeutung des Titels, die wird im Film erklärt. Gleich hinter dem Bahnhof Brest ist die EU zu Ende, sagt die Stimme des Regisseurs aus dem Off, und mit ihr die EU-weite Schienennorm. 89 Millimeter ist der Unterschied zwischen der Spurweite der Eisenbahngleise in Westeuropa und Belarus, Weißrussland, der angeblich „ letzte Diktatur Europas“, sagt die Stimme.

Die Idee zum Film kam Heinzel auf einer Reise nach Weißrussland. Er wollte mit der Kamera einfangen, wie man in dem Land so nah hinter der EU und so fern von der westlichen Welt lebt, wie sich das anfühlt, eine Diktatur. „Für einen Film ohne Drehbuch und mit offenem Ende Geld aufzutreiben ist nicht leicht“, sagt Produzent Stefan Kloos. Irgendwie hat er dann doch genug zusammenbekommen, auch ohne Fernsehsender.

Entstanden ist eine Art Roadmovie. Rockig poppige Musik, Blicke aus dem Autofenster, wackelige Bilder auf Gesichter der Stadt, auf die Porträtierten. „Die Not vor den Polizisten zu flüchten, hat sich zu einer eigenen Bildsprache entwickelt“, sagt Kloos. Auf ihre sechs Helden sind die Filmemacher zufällig gestoßen. Im Zug nach Minsk begegneten sie Slava, einem politischen Flüchtling. Im Restaurant trafen sie Pavel, den Fassadenkletterer. Sie lernten Ludmilla, die perspektivenlose Journalistin, Alex, den Untergrundkämpfer, Olga die Künstlerin, die sich mit Gogo-Tanz ihr Geld verdient, und den staatstreuen Soldaten Igor kennen. Die jungen Weißrussen zeigen ihre Heimat, reden über Freiheit, Diktatur und ihre Träume. Fünfmal sind die Filmemacher nach Weißrussland gereist, um ihre Protagonisten zu besuchen, sie waren bei einer Hochzeit dabei, beim Jagen, Schweinschlachten auf dem Lande und Demonstrieren.

Und auch wenn man über handwerkliche Feinheiten diskutieren kann – zum Beispiel darüber, ob es nötig ist, dass die Stimme des Regisseurs die Geschichte einleitet und am Ende kommentiert – ist die Dokumentation unbedingt sehenswert. Denn den Filmstudenten ist es gelungen, sehr nah an die Porträtierten heranzukommen. Der Film öffnet ein kleines Fenster zu den Menschen aus einer scheinbar fernen Welt, die doch gar nicht so weit weg ist. Marion Hartig

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