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Kultur: Ohne Reue untreu

„Seitensprung“-Reihe neu in der fabrik

Die fabrik möchte sich im neuen Jahr untreu werden. „Für ein kleines Abenteuer und ein bisschen Seitensprung sind wir immer zu haben!“ heißt es salopp im Programm. Zwei bis drei mal im Jahr soll es an der auf Tanz ausgerichteten fabrik von nun an zu künstlerischen Fremdgängen kommen. „Seitensprung“ heißt die Reihe, in deren Rahmen nicht nur Tänzer, sondern auch Künstler aus Musik, bildender Kunst und Multimedia auftreten sollen.

Die Premiere des ersten Fremdgangs am Freitag zeigte, wie erfrischend eine solche unorthodoxe Stippvisite sein kann. Gewagt wurde hier der Sprung in Richtung Zirkusmanege. Dabei ist „The Time Between“ selbst mehr als das, was oft unter Zirkus verstanden wird – mehr als eine reine Nummernshow, in der Clowns und Stunts aneinandergereiht werden. Die Show von Toma Sebastiano, den man vielleicht als Regisseur der schrägen Londoner „Tiger Lillies“ kennt, vereint Elemente von Akrobatik, Jonglage, Pantomime, Clownerie, Schattenspiel und Tanz zu einem schillernden Kleinod der Bühnenkunst. Poetisch und rhythmisch, spielerisch und sehr sinnlich.

Das Trio auf der Bühne (Marie Seeger, Silea Adalwolf, Thomas Dürrfeld) wird musikalisch live unterstützt von einer Band aus Geige, Keyboard und Bass, die den Ton der Szenen vorgibt. Mal schmissig, mal sentimental. Zusammen mit dem Bühnenbild – exzentrische Schattenrisse von pieksigen Laternen und sperrigen Bäumen – entsteht so eine halb nostalgische, ganz leise ironische Bilderwelt, die sich anfühlt wie ein Märchen von Tim Burton ohne Horror. Dem romantischen Jack Skellington aus „Nightmare before Christmas“ hätte es hier gefallen. Zwischen den erstaunlichen Jonglage, -Stocktanz, -Ketten und -Seil-Acts geht es nämlich auch sehr gefühlig zu: Da findet sich ein Paar im Regen, färbt sich das Bühnenbild rosa-rot, seufzt die Geige eine rührende Melodie. Sebastiano Toma, der im Rahmen seiner Zirkus-Show „Balagan“ auf die drei Darsteller aufmerksam wurde, kennt die Register der packenden Unterhaltung – und zieht sie alle.

Die inhaltliche Klammer, die das Ganze über das Niveau herkömmlicher Zirkusauftritte hebt, ist die Flüchtigkeit von Zeit. Es dreht sich um Momente zwischen den Zeiten, um ein Innehalten, Zögern, Verlangsamen der gnadenlos zielstrebigen Lebenszeit. Schon das erste Bild macht das deutlich: Da jonglieren die drei Akteure – in Zeitlupe. Sie werfen die Keulen einander nicht zu, sondern reichen sie sich, die Flugbahn der Keulen haargenau nachzeichnend. Szenen solcher Be- und Entschleunigung gibt es unzählige, teils mit erstaunlichen Effekten. Wenn Marie Seeger etwa in Zeitlupe mit einem Ball tanzt, der wie von Zauberhand entgegen jeder Schwerkraft ihren Körper umspielt. Oder wenn Silea Adalwolf, die atemberaubende Trapezkönigin des Abends, an einem roten Tuch turnt, das sich ungnädig zu verlängern scheint, je mehr sie versucht, daran gen Decke zu klettern. Das berührendste Bild des Abends: Am Ende verliert sie den Kampf, fällt auf dem Boden in sich zusammen, das rote Tuch segelt aus dem Bühnenhimmel und begräbt sie unter sich. Am Ende müssen wir alle vor der Zeit kapitulieren.

Dennoch ist dies freilich kein Abend über Kapitulation. Vielmehr ein äußerst lebensbejahendes Fest der Körperkunst. Ein charmanter Seitensprung. Und völlig ohne Gewissenbisse. Lena Schneider

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