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Der Journalist Deniz Yücel war am 90. Jahrestag der Bücherverbrennung mit einer Gesprächsrunde am Waschhaus Potsdam zu Gast.

© imago/photothek.net

Zurück denken, ins Heute sehen: „Exilland Deutschland“

Zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung luden Journalist Deniz Yücel und Waschhaus Potsdam zum Gespräch mit drei Schreibenden, die heute im deutschen Exil leben.

Am 10. Mai jährte sich der Tag der Bücherverbrennung zum 90. Mal. Die menschen- und literaturverachtende Aktion trieb 1933 viele ins Exil. Auch heute werden Schreibende aus politischen Gründen diffamiert, verfolgt, gezwungen, ihr Land zu verlassen. Für das Waschhaus und den im letzten Jahr neu gegründeten PEN-Club Berlin ein Anlass, um den Schwerpunkt im diesjährigen Gedenken zu verschieben: weg vom Blick zurück. Hin zum Heute. Anstatt über Tucholsky, Mühsam oder Kästner zu sprechen, kamen im Waschhaus zu Wort: Meral Simsek, Yassin al-Haj Saleh und Filipp Dzyadko.

Alle drei leben heute in Deutschland. Der syrische Autor Yassin al-Haj Saleh, Jahrgang 1961, saß 16 Jahre lang in Syrien in Haft und kam 2017 nach einem Zwischenaufenthalt in der Türkei nach Deutschland. Die kurdische Lyrikerin Meral Simsek, Jahrgang 1980, lebt seit Sommer letzten Jahres hier. Der russische Journalist und Autor Filipp Dzyadko, Jahrgang 1983, ist erst seit wenigen Wochen in Deutschland. Dem Journalisten und PEN-Berlin-Vorsitzenden Deniz Yücel kam als Moderator die Aufgabe zu, diese unterschiedlichen Erfahrungen zusammenzubinden.

Parallelen zu perfiden Thesen von 1933

Der kluge Kniff, den Yücel fand, führte zurück in den April 1933. Damals waren von faschistischen Studierenden „12 Thesen wider den undeutschen Geist“ verfasst worden: Der Ausgangspunkt für die Bücherverbrennungen im Mai. Yücel bediente sich der perfiden Thesen, um nach Parallelen in heutigen Kontexten zu forschen. „Sprache und Schrifttum wurzeln im Volke“, hieß es 1933. Eine Forderung: Universitäten sollten Orte „der Zucht und der politischen Erziehung“ sein. Eine andere: die „Reinerhaltung der deutschen Sprache“.

Vielleicht muss ich ein anderer werden.

Filipp Dzyadko, russischer Journalist über sein Leben im Exil

„Auch in Russland ist ein Krieg der Sprache zu beobachten“, sagte Filipp Dzyadko. Er verwies auf das Verbot, in Russland das Wort „Krieg“ zu verwenden, bei Zuwiderhandlung droht Haft. Zudem berichtete er vom „Orwell-Index“, Indikator für Totalitarismus: je populärer George Orwells Klassiker „1984“, desto mieser die Meinungsfreiheit. In Russland werde es überall gelesen. „Darin sind sich die Systeme gleich“, sagte Lyrikerin Simsek: „Es soll nur eine Sprache geben, nicht viele.“ Ihre Muttersprache Kurdisch durfte sie an keiner Schule lernen.

Als Yücel fragt „Warum seid ihr hier?“, zeigt sich, wie schwer diese einfache Frage zu beantworten ist. Simsek und Saleh haben Haft erlebt, beide auch Folter. Simsek wurde in der Haft vergewaltigt. Davon aber berichtet Yücel. Simsek berichtet, wie sie in ihren Büchern gefordert habe, „dass alle Völker gleich behandelt werden sollen“. Saleh zeichnet wortreich und nicht ohne Humor seine Flucht nach. Dzyadko erzählt von seiner Katze, und der Tatsache, dass sein Urgroßvater von Stalin getötet wurde. Alle sprechen sie nicht von sich, sondern von den Umständen, die sie ihr Land verlassen ließen. Warum? Er habe keinen Grund zur Klage, sagt Saleh auf Yücels Nachfrage. „Ich funktioniere.“

Das Ringen um Worte, gegen Sprachlosigkeit, um das Trotzdem-Verstandenwerden, war trotz engagierter Dolmetscherinnen ein Kernthema des Abends - und dürfte viel darüber erzählen, was das Leben im Exil für die Betroffenen ausmacht. „Im Exil ist es notwendig, sich zu verändern“, hieß es später in einem Text von Saleh. „Alles andere ist Verrat.“ Seitdem er im Exil sei, frage er sich, was das überhaupt sei: Heimat, sagt Dzyadko. Ein Land, ein Ort? Oder Sprache? Ideen? „Vielleicht muss ich ein anderer werden.“ Und Simsek erkundet in einem Gedicht, vorgetragen von der Potsdamer Autorin Sophie Sumburane, die Spuren von kurdischen und armenischen Identitäten. „War ich beide Völker? Oder keines?“

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