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Fünf Tore in einem Spiel: Oleg Salenko gelang bei der WM 1994, was vor und nach ihm Niemandem gelang.

© imago sportfotodienst

Rebellion vor der WM 1994: Als ein "Schuhkrieg" die russische WM-Elf lahmlegte

Stellen Sie sich vor, sechs DFB-Stammspieler hätten die WM boykottiert, weil ihnen das Schuhwerk nicht passt. Unmöglich? Bei den Russen ist das mal passiert.

Bei der Weltmeisterschaft 1994 in den USA ging für die Nachfolgemannschaft der UdSSR nahezu alles schief. Die Geschichte begann eigentlich schon 1990, als Anatoli Byschowez letzter Trainer der Sowjetunion wurde. Er schaffte die Qualifikation zur EM 1992 und betreute dort auch das Team, das für kurze Zeit als GUS antrat (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten). Nach diesem Turnier zerfiel jenes Gebilde, und Byschowez hatte keine Mannschaft mehr. Er ging erst nach Zypern und trainierte AEL Limassol, dann übernahm er die Nationalelf Südkoreas.

Derweil formierte sich eine neue, russische Auswahl. Ihr Trainer wurde der 49-jährige Pawel Sadyrin, der große Erfolge mit Zenit Leningrad gefeiert hatte. Er war zwar etwas älter als Byschowez, trotzdem galt er als moderner und experimentierfreudiger, so änderte er das Spielsystem hin zu einem 3-5-2 mit dem Libero vor der Abwehr. Sadyrin hatte seinen Posten bei Zenit einst wegen eines Spieleraufstandes verloren. Im Juli 1987 war ein von 20 Profis unterzeichneter Brief an den Vorsitzenden des Sportrates der Stadt Leningrad geschickt worden, in dem das Team erklärte, nicht mehr für Sadyrin spielen zu wollen.

"Brief der 14" wird zum Skandal

Wenig später wurde der Coach gefeuert. Keine zwei Jahre später stieg Zenit ab. Bei der Nationalelf schien sich das nun alles zu wiederholen. Im November 1993 unterlag Russland im letzten WM-Qualifikationsspiel mit 0:1 in Griechenland. Das war nicht weiter schlimm, denn die Elf hatte ihr Ticket in die USA schon zwei Monate zuvor gelöst. Doch nach diesem Spiel setzten die vierzehn besten russischen Spieler ein Schreiben auf, das als „Brief der 14“ berühmt wurde. Sie drohten mit einem Boykott der Weltmeisterschaft und forderten die Ablösung von Sadyrin sowie die Rückkehr von Byschowez.

Zu den Rebellen gehörten einige Spieler, die man auch in Deutschland gut kannte, etwa Sergei Kirjakow vom Karlsruher SC und Igor Schalimow vom MSV Duisburg. Dazu Sergei Juran und Igor Dobrowolski, die beide einige Zeit später in die Bundesliga wechselten. Vor allem aber Stars wie Andrei Kantschelskis von Manchester United, Oleg Salenko vom FC Valencia, Alexander Mostowoi von Racing Straßburg oder Waleri Karpin von Real Sociedad San Sebastian.

Verband zwingt Spielern Verträge auf

Es war völlig unvorstellbar, ohne diese Leute eine WM zu spielen. Und doch blieb der russische Verband hart. Auch deshalb, weil Präsident Wjatscheslaw Koloskow wusste, dass die eigentliche Kritik der Spieler ihm galt. Die Profis waren unzufrieden mit den Prämienregelungen der letzten beiden Turniere und vor allem mit dem neuen Ausrüstervertrag der Nationalelf. Der Verband hatte einen Deal mit Reebok abgeschlossen. Das bedeutete damals noch, dass die Nationalspieler in Schuhen dieser Marke auflaufen mussten, obwohl sie eigene lukrative Verträge mit anderen Firmen hatten.

Was auch bei der deutschen Nationalelf ein Jahrzehnt später zum „Schuhkrieg“ führen sollte, wurde für die Russen zur großen Zerreißprobe. Die Verhandlungen zogen sich über Monate hin. Juran und Salenko nahmen ihre Drohung relativ früh zurück. Kurz vor dem Turnier knickten schließlich auch Mostowoi und Karpin ein. Insgesamt acht der vierzehn Aufrührer fuhren schließlich doch mit in die USA. Aber das bedeutete eben auch, dass gleich sechs der besten Spieler des Landes lieber auf eine WM verzichteten, als unter Sadyrin – und in fremden Schuhen – zu spielen!

WM-Rekord in ungeliebten Schuhen

Der begnadete Kantschelskis blieb dem Turnier ebenso fern wie Kapitän Schalimow, Kirjakow und Dobrowolski. Außerdem fehlten Vasili Kulkow von Benfica Lissabon sowie Igor Kolywanow, der für Foggia in der Serie A spielte und einst der letzte „Fußballer des Jahres“ in der UdSSR gewesen war. Salenko wurde in den USA für seinen Sinneswandel belohnt: In den Schuhen, die er eigentlich nicht mochte, schoss der Stürmer gegen Kamerun fünf Tore, bis heute WM-Rekord. Doch dieser Erfolg nutzte seiner Elf wenig.

Gegen Brasilien hatten die Russen ohne die Meuterer um Kantschelskis keine Chance, und auch gegen Schweden verloren sie sang- und klanglos mit 1:3. „Ich kann mich nicht freuen, wenn mein Land verliert“, sagte Kirjakow in einem Interview, „aber ich habe früh gesagt, dass Russland mit diesem Trainer keine Chance haben wird, insofern fühle ich mich nun bestätigt.“

Eine Woche nach dem Ende der WM trat Sadyrin zurück und wurde durch Oleg Romanzew ersetzt. Zwei Monate später, im September 1994, verlor Russland etwas unglücklich ein Freundschaftsspiel gegen Deutschland. Igor Schalimow führte die Elf als Kapitän auf den Rasen. Andrei Kantschelskis spielte ebenso wie Vasili Kulkow, Igor Kolywanow und Sergei Kirjakow. Alle in Schuhen von Reebok.

Uli Hesse

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