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Sport: Das unbekannte Wesen

Weil das Pferd Küchengirl nicht mehr springen will, bleiben viele Rätsel

Berlin/Mannheim - Vielleicht lag’s ja an den Regentropfen. Vor dem dritten Aussetzer hatte es gerade begonnen zu regnen. Die Wassermassen kamen erst ein paar Sekunden später vom Himmel, aber da hatte Küchengirl schon abgedreht. Marcus Ehning, der Reiter, wollte die Stute über die Kombination treiben, Küchengirl verweigerte. Zum dritten Mal in drei Tagen, der dramatische Höhepunkt der EM der Springreiter in Mannheim. Zuschauer, Reiter, Ärzte, sie alle hatten ihr Thema. Und die Frage: Warum? Björn Nolting, der Tierarzt der deutschen Springreiter und Heim-Tierarzt von Ehning, „hatte so etwas noch nie erlebt“.

Es gibt die Frage, aber es gibt keine Antwort. „Marcus“, sagt Nolting, „ist ratlos.“ Es kann Annäherungen an die Antwort geben, aber keine echte Begründung. Weil das Pferd keine Antwort geben kann. Und andere können es erst recht nicht. Die Arbeit mit Pferden ist die Arbeit mit Psychologie. „Es gibt Stör-Faktoren fürs Tier, die vom Menschen gar nicht registriert werden“, sagt Elvira Hagen von der Stutenmilchfarm in Brieselang bei Berlin. Die 43-Jährige arbeitet seit Jahren therapeutisch mit Pferden und Menschen. Für sie gehört beides zusammen. Beide müssten sich vertrauen. Auch Nolting sagt: „Das ist jetzt eine Vertrauenssache.“ Ehning wird jetzt erst mal mit der Stute in kleineren Springen starten.

Küchengirl ist zehn Jahre alt, sie kennt Ehning seit zwei Jahren. Sie war in dieser Saison das erfolgreichste Pferd der Superleague, der Top-Liga der Springreiter. So ein Tier verweigert nicht drei Mal in drei Tagen. Jedenfalls in der Theorie. In einer Theorie, die auf Logik basiert. Aber ein Pferd richtet sich nicht nach Logik, ein Pferd reagiert auf Signale, die Gefahr bedeuten können. Dann befiehlt ihr Instinkt: Flucht. Oder Blockade. Durch Verweigerung vor dem Hindernis

„Man kann sich auf vieles vorbereiten“, sagt Elvira Hagen. Dazu gibt es ja Training, die tägliche Arbeit von Mensch und Tier. „Aber fest planen“, sagt die Therapeutin, „kann man nichts.“ Es gibt Pferde, die reagieren erst mal auf Flutlicht oder auf bestimmte Farben. Also trainiert man bei künstlichem Licht und mit allen möglichen Farben. Aber Stressfaktoren, die plötzlich auftauchen, die keiner kennt, kann man nicht simulieren. „Es gibt Situationen, die Reiter und Pferd hundertmal erlebten“, sagt Elvira Hagen. „Aber beim 101. Mal ist alles wieder anders.“ Und dann reagiert ein Pferd.

„Die Tiere nehmen auch die Gesamtatmosphäre ihrer Umgebung auf, diese knisternde Spannung“, sagt Elvira Hagen. „Schon das kann etwas auslösen.“ Küchengirl ist unzählige Mal vor vollen Rängen gesprungen, die Stute kannte die Wettkampfatmosphäre. In Mannheim waren täglich 9000 Zuschauer. Doch Stress bedeutet so eine Kulisse immer. Und wenn dann noch etwas dazukommt, dann ist das genau dieser Faktor zu viel. Küchengirl hatte beim Einspringen die Delfinmauer problemlos überwunden. Beim Wettkampf verweigerte sie vor der gleichen Mauer zweimal. Das war der erste Aussetzer bei der EM. Schon bei den Weltreiterspielen in Aachen 2006 hatte die Stute verweigert. Plötzlich, ohne erkennbaren Grund. Monatelang passierte dann nichts. Bis Mannheim.

Elvira Hagen wundert sich „nicht über diesen Rückfall“. Es gab halt irgendeinen überraschenden Störfaktor. Möglich, dass der nächste, zusätzliche Störfaktor der Reiter war. Ehning hatte die betroffenen Hindernisse jeweils zweimal angeritten. Elvira Hagen kann zum Fall Ehning natürlich nichts sagen, sie redet übers Grundsätzliche. Und grundsätzlich signalisiert ein Reiter, der nach einer Verweigerung erneut anreitet, oft genug, dass er unter Stress steht. „Da denkt einer vermutlich: Oh Gott, hoffentlich komme ich jetzt drüber. Diese Anspannung überträgt sich natürlich aufs Pferd“, sagt sie. Die 43-Jährige rät ihren Klienten generell, Spannung abzubauen.

Russische Lastpferde sind fürs Weltklasse-Springreiten ja leider ungeeignet, sonst könnte Ehning diese Rasse nehmen. Elvira Hagen hat in ihren Ställen solche Tiere, für Stresssituationen gut geeignet. Die Therapeutin sieht das immer an Silvester, wenn Raketen über Brieselang explodieren. „Dann stehen die da und gucken sich die Knallerei in aller Ruhe an.“

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