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Porträt: Die Welt erschließen durch Bewegung

Nils ist fröhlich und aufgeschlossen, manchmal ein Trotzkopf und viel in Bewegung. Er scheint wie jeder andere Achtjährige auch. Doch es gibt einen Unterschied zwischen ihm und seinen Schulkameraden: Nils ist von Geburt an blind.

Als ich ihn das erste Mal treffe bin ich überrascht. Denn Nils ist weder schüchtern, noch unsicher oder ängstlich – und damit so ganz und gar nicht wie ich es von einem blinden Kind erwartet hatte. Er lacht, tanzt und springt durchs Haus und geht gerne zur Schule. Nils unterhält sich mit mir, macht Späße lacht und nimmt dabei immer wieder meine Hand – seine ganz eigene Art von "Augenkontakt".

Vor ein paar Wochen war Nils mit seiner Mutter Maria* auf einem Workshop für Kinder mit Behinderungen. Ein Wochenende lang bekamen sie intensive Betreuung von einem Expertenteam bestehend aus Therapeuten, Ärzten und Psychologen, die sich um jede Familie individuell kümmerten. Bei Nils wurde der Fokus hauptsächlich auf bessere Beweglichkeit gelegt, denn für ihn ist dies ist der Schlüssel zur Welt. Durch Bewegung nehmen blinde Menschen sich selbst und ihre Umgebung besser wahr, sie nehmen Teil an dem Auf und Ab des Alltags anstatt statisch zu sein und im Abseits zu bleiben. Um in unserer schnellen, hektischen Welt mitzukommen ist es unabdingbar, keine Angst vor Bewegung zu haben. Und so kommt es, dass Nils Inliner laufen lernt.

Keine Angst vor Bewegung

Maria erzählt mir, dass sie erst überrascht war über diese Idee. "Wer kommt schon darauf sein blindes Kind auf Rollen zu stellen? Bewegung ist doch auf festen Sohlen schon schwer genug." Doch Zweifel oder Angst hatte sie nie. "Ich vertraute dem Team ganz und gar. Mir war klar, dass sie schon wüssten, was sie tun." Und nachdem Nils seine anfängliche Skepsis überwunden hatte, machte es ihm tatsächlich sehr viel Spaß an der Hand seiner Mutter über die Wege zu rollen. "Die Therapeutin meinte, dass Nils sehr geschickt sei und schnell ein gutes Feeling für die Bewegungsabläufe entwickelt hätte", sagt Maria lächelnd und nicht ohne Stolz. Und auf meine Frage, ob er denn Angst gehabt hätte auf den Inlinern meint Nils nur: "Nee" und lacht. Seit ein Paar Tagen schon besitzt er sein eigenes Paar und fährt so oft es geht an der Hand seiner Mutter auf der wenig befahrenen Straße vor dem Haus. Die Fähigkeit sich frei zu bewegen gibt ihm Selbstbewusstsein.

Der Grundidee des Workshops "Die Welt erschließen durch Bewegung“ stimmt Maria voll und ganz zu. Sie sagt, dass Bewegung sehr wichtig für Nils sei. Seit er laufen kann, liebt er es im Wald spazieren zu gehen und der Natur und den Vögeln zuzuhören. Ständig ist er in Bewegung und wenn er einmal still sitzen muss, dann spannt er seinen kleinen Körper immer wieder so sehr an, dass er zittert – "für ihn eine Möglichkeit sich selbst wahrzunehmen", erklärt mir Maria. "Wenn man sich nicht selbst sehen kann – da ist mein Arm, da ist meine Hand - , dann braucht man einen anderen Weg um sich zu erkennen und zu fühlen."

Nils weiß mit seiner Blindheit umzugehen

Seit zwei Jahren lernt Nils nun mit einem Blindenstock zu gehen, doch auch das freie Laufen macht ihm Spaß. Permanent Angst um ihn haben muss Maria deshalb jedoch nicht: Nils ist vorsichtig und weiß mit seiner Blindheit umzugehen. Das Unbekannte muss er sich erst vertraut machen und es kennen lernen, bevor er es beherrschen kann. Auf diese Art und Weise hat er gelernt, sich selbstständig anzuziehen, den Tisch zu decken, sich im Haus frei zu bewegen oder zur Schaukel in den Garten zu gehen.

Dass Nils einmal so werden würde wie er heute ist, war nicht von Anfang an klar. Er kommt knapp drei Monate zu früh auf die Welt, es folgt eine schwere Zeit für ihn und die Familie. Lange weiß keiner, ob er seinen ersten Geburtstag erleben wird. Es grenzt an ein Wunder, dass er es geschafft hat.

Auch ob er jemals laufen und sprechen würde, war ungewiss, doch auch diese Angst erübrigt sich schließlich: Er ist drei, als er zum ersten Mal auf eigenen Beinen steht und mit vier beginnt er tatsächlich auch mit dem Sprechen. Keiner konnte Maria sagen, was aus ihrem Sohn werden würde und sie ist glücklich über jeden noch so kleinen Fortschritt, den er macht, alles neu Erlernte ist eine Überraschung und etwas Besonderes. Ich frage sie, ob sich die Sorgen und Ängste, die sie hatte, als sie erfuhr, dass Nils blind sei, bewahrheitet haben und nach kurzem Überlegen antwortet sie mir: "Natürlich ist einiges schwerer für ihn als für ein sehendes Kind. Aber wenn ich ihn mir jetzt ansehe, in Anbetracht dessen, dass niemand wusste wie es mit ihm weitergehen würde und ob er jemals zurechtkommen könnte, dann finde ich, dass er sich toll entwickelt hat und dass es alles in allem eigentlich doch ganz gut geworden ist." Ich sehe Nils an und kann ihr nur zustimmen.

* Namen von der Autorin geändert

Annemieke Overweg

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