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Sport: Erfolg zur Unzeit

Stefan Hermanns über den Etappensieg des Linus Gerdemann

Die alten Reflexe funktionieren noch. Rudi Cerne vom ZDF geriet gestern regelrecht ins Schwärmen, lobte mehrmals den – wörtlich – Husarenritt des jungen Deutschen, der überraschend die erste anspruchsvolle Etappe der Tour de France gewonnen und dazu das Gelbe Trikot erobert hatte. Hallo, war da nicht mal was? Gab es nicht ein stilles Einverständnis, die Tour mit einer gesunden Skepsis zu verfolgen? Gilt angesichts der nun gesicherten Erkenntnisse über das Dopingsystem im Radsport nicht so etwas wie die generelle Schuldvermutung? Seit gestern wissen wir: Sie gilt nur solange, bis ein Deutscher gewinnt.

Diese Zeitung hat sich vor der Tour für eine sehr zurückhaltende Berichterstattung entschieden. An dieser Linie ändert sich nichts, nur weil Linus Gerdemann jetzt in Gelb fährt. Diese Linie wird auch dann noch gelten, wenn Andreas Klöden die Tour gewinnt. Ja, dann erst recht.

Anders als Klöden steht Gerdemann für eine neue Ehrlichkeit im Umgang mit dem Thema Doping. Aber so wie im Radsport eine ganze Generation vor ihm von der generellen Unschuldsvermutung profitiert hat, so leidet Gerdemann – vorausgesetzt, er ist sauber – jetzt unter dem neuen Generalverdacht. Natürlich ist das unfair; aber Ungerechtigkeit ist Teil des Sports. Nicht das größte Talent, die akribischste Vorbereitung oder die klügste Taktik entscheiden über Erfolg oder Misserfolg. Im Sport haben Glück, Pech oder Zufall immer schon eine wichtige Rolle gespielt. In anderen Zeiten wäre Rafael Nadal längst die Nummer eins im Tennis. Jetzt aber muss er sich mit Roger Federer messen, dem wohl besten Tennisspieler aller Zeiten.

Linus Gerdemann wäre noch vor einem Jahr mit einer Fahrt wie gestern, allen Ahnungen zum Trotz, in den Status eines nationalen Helden aufgerückt. Dass seine Leistung nun eher geschäftsmäßig zur Kenntnis genommen wird, ergibt sich aus der Vorgeschichte des Radsports, nicht aus einem konkreten Verdacht. Sofern Linus Gerdemann sauber ist, sollte er es nicht persönlich nehmen.

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