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Höhepunkt in der Vereinsgeschichte von Bodø/Glimt: ein 6:1 gegen den AS Rom am 21. Oktober 2021.

© Imago/Independent Photo Agency

Fußballverein Bodø/Glimt: Fußballmärchen am Polarkreis

Der norwegische Verein mischt seit Jahren den europäischen Fußball auf. Mit seiner Philosophie unterscheidet er sich stark von der Konkurrenz.

Odd Emil Ingebrigtsen, Bürgermeister von Bodø, stellte am 3. Februar die rhetorische Frage. „Wer hätte gedacht, dass eine Stadt weit oben – nördlich des Polarkreises – Europäische Kulturhauptstadt werden könnte?“. Und fügte direkt hinzu: „Genauso wie niemand glaubte, dass die Fußballmannschaft dieser Stadt den AS Rom, einen der größten Vereine der Welt, mit 6:1 schlägt.“

Es zeigt die Bedeutung des Fotballklubben Bodø/Glimt, dass der Bürgermeister seine Rede zur Feier der Europäischen Kulturhauptstadt so beginnt. Für ihn ist seine Heimat geprägt von Optimismus und Ehrgeiz, wo das Unmögliche möglich wird.

Es könnte auch die Beschreibung von Bodø/Glimt sein, der 1916 gegründete Klub wurde 2020 erstmals in der Vereinsgeschichte norwegischer Meister. Im Dezember 2023 holte sich die Mannschaft den Titel zum dritten Mal innerhalb von vier Jahren. Lange wäre dies undenkbar gewesen, die leidgeprüften Fans sahen ihr Team in die zweite und sogar dritte Klasse absteigen und zwischendurch wieder aufsteigen, 2010 war der Verein beinahe bankrott.

Ungewöhnlicher Strategiewechsel bringt die Wende

Doch der Talentaufbau in der eigenen Akademie und ein ungewöhnlicher Strategiewechsel brachten die Wende, die nun auch in internationalen Erfolgen mündet. Am Donnerstagabend spielt Bodø/Glimt als Gruppenzweiter in der Europa Conference League gegen Ajax Amsterdam. Zunächst treffen die Teams in den Niederlanden aufeinander, in der Woche darauf im Heimstadion.

Der inzwischen legendäre 6:1-Sieg gegen AS Rom gelang 2021, damals erreichten die Nordnorweger im internationalen Turnier das Viertelfinale. In dieser Saison bezwang die Mannschaft von Trainer Kjetil Knutsen in der Gruppenphase bereits Lugano und Beşiktaş Istanbul, verlor allerdings gegen den FC Brügge.

53.000
Menschen leben in der arktischen Küstenstadt.

Gerade mal 53.000 Menschen leben in der arktischen Küstenstadt, die Anfang Februar erst wieder zeitweise durch orkanartige Stürme lahmgelegt wurde. Wer hier oben wohnt, darf nicht zimperlich sein.

Das gilt auch für die Fans bei winterlichen Heimspielen. Am 3. Dezember 2023 etwa, beim letzten Spieltag der Saison vor Ort, sind die Fans gekleidet, als gingen sie auf eine Skiexpedition. Manche brachten selbstgestrickte Decken mit.

Eine Familie prägt die Vereinsgeschichte

Für Familie Berg ist dieser besondere Verein bereits seit drei Generationen eine Art zweites Zuhause. Der 26 Jahre alte Mittelfeldspieler Patrick Berg steht an diesem Abend auf dem Platz, Vater Ørjan und Großvater Harald sitzen auf der Tribüne. Onkel Runar, der ebenfalls Profi und Nationalspieler war und mittlerweile im Marketing-Bereich mit Sponsoren arbeitet, sagt über die Geschichte: „Das Team von 1963 war besonders, denn es war das erste, das am norwegischen Pokal teilnehmen durfte.“ Zuvor waren Vereine aus dem Norden des Landes nicht zugelassen.

1975 gelang Bodø/Glimt der Pokalsieg. Damals stand Vater Harald „Dutte“ Berg auf dem Platz, bis heute ist dieser für viele Fans der große Held. Vor kurzem wurde ihm zu Ehren vor dem Aspmyra-Stadion eine Statue eingeweiht. Lange lehnte der inzwischen 82-Jährige ein Denkmal ab, er mag die Aufmerksamkeit nicht und betonte stets, dass Fußball ein Teamsport sei. Am Ende gab Harald unter der Bedingung nach, dass demnächst neben ihm Statuen von einem Mädchen und einem Jungen stehen, die die kommenden Generationen repräsentieren.

Wir sind der einzige Verein, der nie übers Gewinnen spricht.

Ørjan Berg, früherer Profi und Vereinsikone

Drei von Haralds vier Söhnen wurden ebenfalls Fußballprofis, sie alle sind im Treppenhaus des Stadions in Farbfotos auf dem Feld agierend zu sehen. Ørjan und sein jüngerer Bruder Runar spielten in den Neunzigern zwischendurch für Rosenborg. Der Trondheimer Verein und 26-fache Meister war seinerzeit das Bayern München Norwegens.

Die Brüder machten aber auch international Karriere – Runar in Venedig und Ørjan unter anderem in Basel sowie eine Saison beim damaligen Zweitligisten TSV 1860 München. Erstellt wurde die Fotocollage im Treppenhaus 2016 zum hundertjährigen Vereinsjubiläum. „Dabei sollten unsere größten Erfolge danach kommen“, sagt Runar.

Feuerwerk trotz arktischer Kälte: Jahresabschluss im Aspmyra-Stadion

© Imago/Bildbyran

Nach dem 1:0-Sieg am Dezemberabend und einer knapp zehnminütigen Feier sagt Ørjan Berg stolz, dass sein Sohn Patrick 2020 als Kapitän erstmals den Meisterpokal für Bodø/Glimt nach Hause holte und sein Vater Harald dies miterleben konnte. „Aber ich arbeite beim Club, deshalb versuche ich nicht zu emotional zu sein.“

Der 55-Jährige kümmert sich als Abteilungsleiter „Gemeinschaft“ um den Nachwuchs in der Akademie und um spezielle Teams für Jugendliche, die zum Beispiel psychische Herausforderungen oder Drogenprobleme haben. Das Thema liegt der Familie am Herzen, denn Bruder Arild, der früher ebenfalls Fußballprofi war, kämpfte jahrelang mit seinen Dämonen und verstarb 2019. „Die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen ist sehr inspirierend und erfüllend. Man erlebt ihre Entwicklung und sieht, was der Sport beitragen kann.“

Ehemaliger Kampfjetpilot arbeitet als Mentalcoach

Auch bei den Profis der Eliteserie hat die mentale Gesundheit höchste Priorität, dafür engagierten sie Bjørn Mannsverk. Der ehemalige Kampfjetpilot brachte der Mannschaft bei, besser mit dem Druck und Stress umzugehen. So gehören seit 2019 neben dem Krafttraining ebenso Yoga, Meditation und Achtsamkeitsübungen zur Routine.

„Wir sind der einzige Verein, der nie übers Gewinnen spricht“, erklärt Ørjan die Philosophie. „Wir reden nicht über Siege, Niederlagen oder Punkte, sondern nur über die Leistung. Und darüber, wie wir den Klub und das Team weiterentwickeln wollen.“

Der Norweger glaubt, dass es dieser Strategiewechsel war, der ihnen neben der effizienten Formation 4-3-3, dem kraftvollen Pressing und ihrer Ausdauer den Weg zu den drei Meisterschaften ebnete. „Ich weiß, dass die Spieler ihren Pokal jetzt für fünf Minuten feiern, doch dann fokussieren sie sich wieder – nicht auf das nächste Spiel, sondern auf das nächste Training.“

Kurz vor der Begegnung mit der Amsterdamer Mannschaft trainierten die Norweger im warmen Marbella. Wer weiß, welche unmöglichen Ziele der kleine arktische Verein sonst noch erreichen kann – unterschätzen sollte Ajax das leidenschaftliche Team jedenfalls nicht.

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