zum Hauptinhalt
Christoph Harting sprach über eine schwere Zeit in seinem Leben.

© dpa/Michael Kappeler

„Ich musste die Reißleine ziehen“: Diskus-Olympiasieger Christoph Harting spricht offen über seine Depression

Panikattacken, Medikamente, Nächte im Auto: In einem Interview berichtet Harting erstmals von seinem psychischen Zusammenbruch – und warnt: „Keiner ist davor gefeit.“

Bei den Sommerspielen in Rio de Janeiro 2016 hatte er überraschend Olympia-Gold im Diskuswurf gewonnen. Nun hat Christoph Harting in einem Interview zum ersten Mal offen über seine Depression gesprochen. „Keiner ist davor gefeit. Egal, wie erfolgreich oder unerfolgreich er war. Und ja, es hat auch mich getroffen“, sagte der 33-Jährige.

„Ich musste die Reißleine ziehen. Es war psychisch ein absoluter Breakdown. Ich war in der Klinik, wurde psychotherapeutisch und psychologisch betreut, dazu kam die Einstellung mit Medikamenten“, sagte der 33-Jährige der „Berliner Zeitung“. Nach seiner Auszeit von eineinhalb Jahren peilt er jetzt die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2024 in Paris an.

Harting beschrieb seine Erkrankung ausführlich: „Stell dir vor, du wachst auf und liegst unter einer riesigen, großen, schweren, schwarzen Decke. Und du kriegst die nicht runter. Du kriegst noch nicht mal den Wecker ausgemacht“, sagte er. „Du hörst immer wieder zu, und irgendwann hört er auf zu klingeln. Dann bleibst du einfach liegen.“

Du kriegst noch nicht mal den Wecker ausgemacht.

Christoph Harting, Diskus-Olympiasieger

Auch Panikattacken habe er gehabt: „Oh, war das furchtbar. Du hast das Gefühl, zu sterben. Du musst dich rausziehen. Das ist ein unglaublicher Kampf, der einen unfassbar müde macht.“ Harting sprach aber auch davon, dass aus seiner Sicht der Umgang mit Depressionen in der Gesellschaft besser wird: „Es ist eine Krankheit, die immer mehr gesellschaftliche Akzeptanz findet. Das Stigma fällt“, sagte er.

Christoph Harting schlief zeitweise im Auto

Der Goldmedaillengewinner der Spiele von Rio 2016 hatte nach der Trennung von seiner Frau von April 2021 bis August 2022 keine eigene Wohnung. „Ich schlief zwei Monate bei meinem Trainer, dann bei einem Kumpel im Büro, bei Freunden, im Wurfhaus, im Auto oder war im Trainingslager. Ich habe eineinhalb Jahre lang eine Wohnung gesucht, war überall und nirgends“, sagte Harting. Bei der Wohnungssuche habe ihm auch sein Olympia-Gold nicht geholfen.

Nun wohnt er in Berlin-Marzahn. „Es war die einzige Wohnung, für die ich eine Einladung zur Besichtigung bekommen habe. Die Wohnung ist gut und ich bin dankbar, dass ich sie bekommen habe. In Berlin gibt es für eine freie Wohnung, die halbwegs erschwinglich ist, wofür man keinen Wohnberechtigungsschein braucht, 600 bis 800 Bewerber“, sagte Harting.

Seine Ansprüche an eine Wohnung seien gewesen: Zwei- bis Dreiraumwohnung, maximal 1000 Euro, eine halbe Stunde Fahrtweg zum Sportforum. „Keine Chance. Ich habe die Absagen irgendwann ungelesen gelöscht. Mein Leben ist komplett aus dem Ruder gelaufen, feste Anlaufstellen gab es kaum. Da waren diese kleinen Negativnachrichten auch nicht mehr wirksam“ sagte der Sportler.

Harting berichtete, dass auch sein Psychologie-Studium Vergangenheit ist: „Ich wurde exmatrikuliert. Ich hatte meine Semestergebühr nicht überwiesen. Ich war nicht mehr regelmäßig an der Uni. Und man hat mich nicht erreichen können, weder postalisch noch sonst.“

Zudem war er aus dem Leistungskader gestrichen worden. „Der Sport war das Einzige, was meinem Alltag noch halbwegs Struktur gegeben hat – aber auf einem Level, das man nicht Leistungssport nennen kann“, sagte Harting.

Trotz der Versöhnung mit seinem Bruder Robert Harting kurz davor war das Verhältnis der beiden Sportler noch zu distanziert, um beim Olympiasieger von London 2012 Quartier zu beziehen. „Wahrscheinlich hätte er es zugelassen, wenn ich gefragt hätte, aber ich war noch zu stolz, um zu fragen“, sagte Christoph Harting.

Seit Mitte des letzten Jahres ist er wieder Kaderathlet. Am Sonntag möchte er bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften ins Finale der Diskuswerfer einziehen.

Mit einer Bestweite von 63,22 Metern in diesem Jahr rechnet Harting nicht mit einem Start bei der Leichtathletik-WM, die vom 19. bis 27. August in Budapest ausgetragen wird. Das sei „unrealistisch. Die Norm sind 67 Meter. Da fehlen noch vier Meter“, sagte Harting. „Für mich ist eine WM-Teilnahme unwahrscheinlich, was schade ist, weil ich gern dabei sein würde, denn es steckt im Körper. Aber bei der täglichen Arbeit kommt es nicht raus“, sagte Harting.

Er will weiter nach vorne schauen. „Daher richte ich mich nach der Langfristigkeit: Ziel Paris 2024. Der Coach sagt, wir sind voll im Plan. Dann kommt aber das Ungeduldige in mir: Ich will auch dieses Jahr was machen. Das steht gerade im Konflikt.“

Beim Olympiasieg 2016 in Rio hatte Harting mit 68,37 Metern Gold gewonnen. In der aktuellen Saison liegt seine Topweite bei 63,22 Metern. Am kommenden Wochenende finden in Kassel die Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften statt. Dort geht es auch um die Qualifikation für die Weltmeisterschaft vom 19. bis 27. August in Budapest. (lem)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false