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Xiang

© AFP

Leichtathletik: China unter Schock: Superstar Liu Xiang gibt auf

Er ist ihr Gott. Denn Liu Xiang ist kein Gewichtheber oder Tischtennisspieler. Er ist Leichtathlet, Star einer Sportart, die im Westen etwas gilt. Jetzt hat er sich verletzt. Und in China bricht die Sportwelt zusammen – trotz 67 anderer Medaillen.

Das Gesicht dieser Olympischen Spiele verzieht sich vor Schmerzen. Die Beine dieser Spiele humpeln. Die Hoffnung der Spiele sieht nicht mehr nach Sieg aus. Dann der Startschuss. Es ist ein Fehlstart, ein Athlet aus Katar hat ihn ausgelöst, aber während die anderen Hürdensprinter neben ihm trotzdem aus ihren Startblöcken schießen, hebt sich Liu Xiang nur langsam heraus. Er kommt nicht einmal bis zur ersten Hürde. Die anderen wollen noch einmal von vorne anfangen. Liu Xiang aber reißt sich seine Startnummern von den Beinen, knüllt sie zusammen und geht zurück in die Katakomben des Nationalstadions. Zurück lässt er 91000 entsetzte Zuschauer.

Bis zum Montag lief für die Chinesen bei ihren Spielen in Peking alles nach Plan, sie gewannen eine Goldmedaille nach der nächsten und liegen in der Nationenwertung weit vorn, in der Organisation bekommen sie kaum Punktabzüge. Doch egal, wie viel sie noch gewinnen – das Gold von Liu Xiang wird ihnen am Ende in der Bilanz fehlen. Denn es wäre keine Goldmedaille wie die anderen gewesen.

Welche Disziplin kann schon so gut Chinas Weg beschreiben wie die von Liu Xiang? 110 Meter Hürden. Das ist ein Sprint über zehn Hindernisse. Ein Symbol für die rasante Entwicklung Chinas. Schnell sein, obwohl etwas im Weg steht. Für jede Hürde ließe sich ein Hindernis auf Chinas Weg finden. Ländliche Armut, Argwohn der westlichen Welt, Umweltverschmutzung, am Ende wird China trotzdem am Ziel sein – als Sieger. Liu Xiang, 1,89 Meter groß, 25 Jahre alt und aus Schanghai stammend, hatte es schließlich vorgemacht. Er wurde 2004 als erster Chinese Olympiasieger in der Leichtathletik, den Weltrekord hielt er zwischendurch auch, er ging als Weltmeister in Peking an den Start. Doch er kam nicht einmal im Vorlauf ins Ziel. „Eine Entzündung der Achillessehne“, wird sein Trainer Sun Haiping später als Diagnose angeben, bevor er zu weinen anfängt.

Liu Xiang widerlegt Vorurteile

„Es ist ein Desaster für China“, sagt die Chefreporterin der chinesischen Ausgabe von „Sports Illustrated“. Sie ist klein und burschikos, sie heißt so ähnlich wie der tragische Held, Li Xiang. Die Nachricht vom Aus hat sie am Montagvormittag telefonisch auf einer Pressekonferenz mit Michael Phelps erhalten. „Die meisten Chinesen hat es überrascht“, sagt Li Xiang, „die Sportjournalisten nicht so sehr, wir haben gewusst, dass es Verletzungsprobleme gibt.“ Li Xiang hat jenen Helden einmal interviewen dürfen. Als sie das sagt, klingt Stolz mit, so als wäre das Gespräch nicht Teil ihres Jobs gewesen – sondern eine seltene Ehre. „Liu Xiang ist wie ein Gott in China“, sagt sie.

Li Xiang nennt zwei Gründe für diese Popularität. Zum einen Liu Xiangs Persönlichkeit. „Er ist ein offener, ehrlicher Mensch, den alle mögen“, sagt sie. Zum anderen die Sportart: Leichtathletik. „Es gibt das Vorurteil, dass Asiaten nicht so schnell rennen können wie Schwarze oder Weiße. Liu Xiang hat das widerlegt.“ Sein Ruhm stützt sich auf die Leistung, es in einer westlichen Sportart zwischenzeitlich zum schnellsten Menschen der Welt gebracht zu haben. Auch im Schießen, Tischtennis oder Badminton sind chinesische Sportler traditionell die Besten – nur zählen diese Sportarten in den westlichen Augen nicht so viel. China weiß das. Das Land will einen ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex gegenüber der westlichen Welt überwinden, und die Olympischen Spiele sind Teil der Therapie. „Die Spiele sind wie eine Ausstellung, in der wir für uns selbst und der Welt zeigen können, was wir geleistet haben“, sagt der Schriftsteller Shuyang Su, der auch Mitglied der Kommunistischen Partei ist. Die Spiele sollen zeigen, dass das Land, das unter Mao fast drei Jahrzehnte lang in der selbstgewählten Isolation verschwunden war, mithalten kann mit den Großmächten der Welt.

Sie gehen zu McDonald's oder Starbucks

Der Westen gilt als Vorbild, vieles was westlich ist, ist chic und erstrebenswert, besonders unter jungen Chinesen. Sie gehen zu McDonald’s oder Starbucks, wer es sich leisten kann, fährt teure westliche Autos. „Wir haben das Gefühl, dass wir uns endlich auf gleicher Höhe mit den Ausländern austauschen können“, sagt Shuyang Su. Und Liu Xiangs Olympiasieg in einer Athener Nacht vor vier Jahren hat dieses Gefühl enorm befördert.

China dankt es ihm mit Heldenverehrung. Die Zahl 12,88 kennen in China sogar manche Kinder – 12,88 Sekunden, das ist der Weltrekord, den Liu Xiang zwischenzeitlich aufgestellt hatte, der Lauf wird neben dem Olympiasieg auf den Fernsehsendern Chinas unzählige Male wiederholt. Lius Einkommen im vergangenen Jahr ist vom Magazin „Forbes“ auf 23,8 Millionen Dollar geschätzt worden, sein Gesicht findet sich in Peking auf unzähligen Plakatwänden, in den Kühltruhen der Supermärkte taucht es auf, es wirbt für die chinesische Milchfirma Yili. Außerdem wirbt Liu noch für Cadillac, Coca-Cola, Lenovo, Nike, Visa, Nutrilite und eine chinesische Bekleidungsfirma. Für die Zigarettenmarke Baisha wirbt er nicht mehr.

An einem lauen Vorsommerabend im Mai füllen 45 000 Zuschauer das Nationalstadion, es könnten noch mehr sein, doch die oberen Ränge sind noch nicht geöffnet. Die Wettbewerbe sind uninteressant, zumeist unbekannte chinesische Provinzsportler messen sich im Hammerwerfen oder Stabhochsprung – und Liu Xiang tritt auf. „Wir sind wegen ihm hier“, sagt eine junge Zuschauerin, „er ist der Beste.“

Liu gewinnt mühelos. Sofort danach verlassen die Zuschauer massenweise das Stadion. Als sie merken, dass es noch eine Siegerehrung für ihn gibt, strömen sie wieder zurück. Später wird sich ein Mitglied des Pekinger Olympia-Organisationskomitees über das Desinteresse seiner Landsleute an den übrigen Sportlern beschweren. Doch im Nachhinein ist das Rennen im Mai noch weiter aufgewertet worden: Es ist Liu Xiangs letzter Wettkampf gewesen, an dem er auch die Ziellinie überquert hat.

Zwei Ärzte für einen Superstar

Dass er jetzt wegen einer Verletzung nicht mehr rennen kann, verwundert allerdings doch. Noch im Februar, als sich Chinas zweiter Superstar, der Basketballer Yao Ming, verletzt gemeldet hatte, erklärte der Leichtathletik-Cheftrainer, wie vermieden werden soll, dass Liu Xiang etwas Ähnliches zustößt. „Wir haben 30  Ärzte für das gesamte Leichtathletikteam, um Schlüsselathleten wie Liu Xiang kümmern sich zwei Ärzte.“ Ein Team aus Wissenschaftlern wertet jedes Trainingsergebnis aus. Ernährungswissenschaftler haben einen eigenen Speiseplan für ihn entwickelt. Auch darf er nicht Auto fahren, obwohl er für eine Autofirma wirbt. Die Unfallgefahr ist zu hoch.

Immer noch wohnt Liu Xiang in einer 20 Quadratmeter großen Wohnung auf dem Campus der East China Normal Universität in Schanghai. Er studiert Rechtswissenschaften, konzentrierte sich aber in den letzten Jahren vor allem auf die Vorbereitung für die Olympischen Spiele.

Liu stammt aus einer einfachen Familie, sein Vater fuhr Lastwagen, seine Mutter arbeitete als Kellnerin. Mit acht Jahren erkannte man sein Bewegungstalent und schickte ihn auf eine Sportschule, auf der er Hochspringer werden sollte. Mit mäßigem Erfolg. Trotzdem entdeckte der Trainer Fang Shuiquan die Eignung des Jungen für den Hürdenlauf. Nach einem Treffen mit seinen Eltern, die ihm versicherten, dass Liu Xiang noch wachsen werde, begann er, den Jungen zu trainieren.

Der Erfolg nahm seinen Lauf, doch in diesem Jahr verlief die Karriere nicht mehr so scheinbar störungsfrei. Von Verletzungen also war die Rede, Liu Xiang verlor seinen Weltrekord, sagte seine Teilnahme an einem Rennen in New York ab.

Merkwürdige Dehnübungen, das Gesicht schmerzverzerrt

Das Ausmaß des Dramas wird erst am Montag sichtbar. Die Zuschauer toben, als Liu Xiang das Stadion betritt. Aber etwas stimmt nicht. Liu macht merkwürdige Dehnübungen, er versucht, sein rechtes Bein zu lockern. Immer wieder kneift er die Augen zusammen. Es wird ruhiger im Stadion. Als Liu zurückgeht in den Tunnel des Stadions, durchzieht ein langes „Ooooh“ die Luft, dann wird es gespenstisch still.

Eine halbe Stunde später betreten zwei Trainer den Pressekonferenzraum. Sun Haiping beginnt, er ist der persönliche Trainer von Liu Xiang, ein Mann mit schütterem Haar und verschlossenem Gesicht, er spricht von der Verletzung. „Das hat sich in den vergangenen sechs, sieben Jahren entwickelt. Mal wurde die Verletzung schlimmer, mal wurde es besser.“ Neben ihm sitzt der Cheftrainer. „Am Samstag beim Training ist seine Verletzung plötzlich wieder aufgebrochen“, sagt er. Aber Liu habe weiter probiert. Im Callroom, wo die Athleten darauf warten, dass sie zum Start gerufen werden, sei Liu immer noch zuversichtlich gewesen, sagt der Cheftrainer.

Der Trainer weint

Liu Xiangs Hürdentrainer wird nun eine persönliche Frage gestellt, wie er sich fühle, er sei doch schließlich so etwas wie dessen Vaterfigur. Suns Antwort: Tränen. Er hält beide Hände vors Gesicht. Ein Helfer reicht ihm ein Taschentuch.

Von jetzt an spricht nur noch der Cheftrainer. „Wir haben unser Bestes getan.“ Das ist den beiden Trainern wichtig, das sagen sie mehrfach. Sie wollen wohl verhindern, dass noch Schuldzuweisungen kommen, an Liu oder an sie oder an die Ärzte. Es ist ein Moment, den China bei der Vorbereitung der Spiele nicht kontrollieren konnte.

Am Ende sagt der Cheftrainer noch: „Wo er nur hingeht, er sieht sich auf Plakaten immer selbst. Wenn er im Internet surft, stößt er immer auf Seiten, in denen es um ihn geht. Er hat so viel Druck gehabt wie kein anderer Athlet.“

War alles schon vorher klar?

Diese Plakate hätten alle abgehängt werden müssen, wenn Liu Xiang schon vorher auf seinen Start verzichtet hätte – Geld wäre verloren gewesen und auch Ruhm. Ein Verdacht steigt auf, aus dem ein Reporter jetzt eine Frage macht: „Warum haben sie nicht früher über seine Verletzung informiert?“ will er vom Cheftrainer wissen. Der entgegnet: „Seit Mai wussten die Leute, dass er Probleme hat. Aber seine Form wurde auch wieder besser. Es wusste keiner, dass er nicht würde starten können, sonst hätten wir es gesagt.“

Erst am Tag des Vorlaufs berichtet „China Daily“ über eine Verletzung. Die Zeitung schreibt allerdings von einer Oberschenkelverletzung. Nicht von einer Entzündung der Achillessehne. Vielleicht konnte Liu Xiang nicht laufen und musste den Zuschauern zeigen, dass er es wirklich nicht kann.

Die Sportreporterin Li Xiang hat einige Stunden später eine nüchterne Sicht auf das Ereignis. „Im Sport passieren Verletzungen, das ist normal“, sagt sie. Normal aber ist ein Wort, das im Zusammenhang mit Liu Xiang in China schon lange nicht mehr gebraucht worden ist. Es weist darauf hin, wie das für China traumatische Ereignis auch verstanden werden kann: Als der Tag, an dem Liu Xiang endlich wieder Mensch sein durfte.

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