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Leichtathletik-EM: Es ist nicht alles Silber, was glänzt

Nadine Kleinert bekommt seit ihrem zweiten WM-Platz die Aufmerksamkeit, die sie immer wollte. Das geht auf Kosten ihrer Leistung: In Barcelona wird sie nur Siebte.

Helmut Digel hat jetzt ganz, ganz schlechte Karten. Daran ist Nadine Kleinert schuld. Wie soll denn Digel, der frühere Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV), jetzt noch Recht behalten? Drei Medaillen holen die Deutschen im Kugelstoßen, hatte Digel vor der Leichtathletik-EM verkündet. Männer und Frauen zusammengerechnet, selbstverständlich.

Jetzt steht Digel auf einer Terrasse, hoch über den Dächern von Barcelona, hält ein Glas in der Hand und sagt vergnügt, dass er seine Prognose ja nun vergessen könne. Wegen Kleinert. Ihre Medaille war natürlich eingeplant in seine Rechnung. Einen halben Meter neben ihm steht Nadine Kleinert, einen Kopf größer, der Mund ziemlich verkniffen, in der rechten Hand ein Bierglas. Es ist Nacht geworden, große Kerzen beleuchten den deutschen EM-Klub. Hier soll die Atmosphäre entspannt sein.

Ist sie aber nicht, jedenfalls bei Nadine Kleinert nicht. Die steht da wie ein Turm und sagt: „Eigentlich habe ich schon beim Einstoßen bemerkt, dass nichts geht.“ Beim ersten Versuch im Finale der Kugelstoßerinnen ging nicht viel mehr. Die Kugel plumpste nach 18,94 Metern in den Rasen, das machte am Ende Rang sieben. Noch einen Platz schlechter als die beste Deutsche Petra Lammert. Die hatte nicht weiter gestoßen als Kleinert, aber ihr zweitbester Versuch war besser.

Ein paar Sekunden lang flüchtet sich Nadine Kleinert in die Statistik. „Ich bin seit vielen Jahren in jedem großen Finale dabei gewesen, das schafft auch nicht jede.“ Und eine verpatzte EM kann sich zur Fußnote reduzieren, wenn man drei Mal Vize-Weltmeisterin und einmal WM-Dritte geworden ist. Außerdem ist sie keine Maschine, auch nicht nach tausenden Stößen. Was nutzt Erfahrung, wenn der Wettkampf nicht läuft? „Gar nichts nutzt sie“, sagt Kleinert. „Damit kann man nur Schadensbegrenzung betreiben.“

Die Beine schwer, die Technik mangelhaft, die Aggressivität überschaubar. Sie rattert die ganzen Symptome des verpatzten EM-Auftritts herunter, als würde sie einen Einkaufszettel abarbeiten. Nur die Gründe, die kann sie nicht so recht benennen. Tagesform, okay, das ist immer ein Argument. Und die Zeit zwischen Qualifikation und Finale, die sei ziemlich kurz gewesen. Dadurch habe die Regeneration gelitten.

„Ach, komm“, wirft da Klaus Schneider ein, ihr Trainer. „In diesem Rhythmus trainierst Du doch auch jeden Tag.“ Ja, schnappt Kleinert zurück, „aber da muss ich nicht zweimal mit 100 Prozent stoßen“. Schneider ist ein muskulöser Mann, so groß wie Kleinert, breit wie ein Schrank. Er trainiert sie seit vielen Jahren, nun lächelt er in sich hinein. Er will jetzt nicht streiten.

Kleinert hat bestimmt nicht Unrecht, aber ein Punkt fehlt: Platz sieben ist auch der Preis für ihren neuen Stellenwert. Vor einem Jahr hatte sie die Kugel 20,20 Meter weit gestoßen, ein ganzes Stadion brach darauf in frenetischen Jubel aus, und Kleinert erlitt einen Kreislaufzusammenbruch, so sehr hatte sie der Wettkampf ausgelaugt. Es war der Wettkampf ihres Lebens, die WM in Berlin, am Ende rannte sie als Vize-Weltmeisterin mit der deutschen Fahne um die Schultern über die Bahn.

Und jetzt vermarktet sie ihren Stellenwert. „Ist doch klar, sie nimmt natürlich auch Geld mit“, sagt Schneider. Nadine Kleinert reist von Meeting zu Meeting, startet in der lukrativen Diamond League, kassiert hier, kassiert dort. Für Trainingspausen bleibt da wenig Platz im Terminkalender.

Nadine Kleinert lebt jetzt dieses Leben, das sie immer für sich reklamiert hat. Sie wird anständig bezahlt und zu großen Meetings eingeladen. Jahrelang hatte sie sich so zuverlässig über geringe Gagen und Missachtung von Medien, Sponsoren und Meeting-Direktoren beklagt wie Guido Westerwelle über das angeblich ungerechte Steuersystem. Hat sich das WM-Silber von Berlin also ausgezahlt? „Jein“, erwidert die 34-Jährige. „Andere bekommen mehr. Aber es ist okay.“

Wenigstens das. Mehr geht nicht. Nadine Kleinert hat die ganze Saisonplanung auf ihre Vermarktung ausgerichtet. „Vor der WM war doch der Trainingsaufbau ganz anders als in diesem Jahr“, sagt Schneider.

Niemand kann es Kleinert verübeln. Aber deshalb stand sie in diesem Jahr wohl auch nie am Rand eines Kreislaufzusammenbruchs. „Ich wäre ja froh gewesen, wenn es so gewesen wäre“, sagt sie. Stattdessen spürte sie die ganze Saison schon, „dass die Aggressivität fehlte“. Ob sie das nächste Jahr überhaupt angeht, das ist nicht klar. „Das entscheide ich am Saisonende.“

Klar ist nur, dass Digel definitiv falsch liegt. Drei Medaillen? Geht nicht mehr. Bei den Männern starten nur zwei deutsche Kugelstoßer.

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