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Achraf Hakimi verwandelte Marokkos entscheidenden Elfmeter.

© AFP/Javier Soriano

Der neue WM-Star: Wie Marokkos Heldengeschichte ihren Lauf nahm

Marokko bricht die Phalanx an erwartbaren Teams im Viertelfinale und sorgt für die größte Sensation der WM. Das hat auch mit den unglaublichen Fans zu tun.

Als Achraf Hakimi den entscheidenden, vierten Strafstoß im Elfmeterschießen verwandelt, setzt der 24-Jährige einen dicken Punkt hinter eine der größten Heldengeschichten, die das Land Marokko je erlebt hat.

Es ist ein lässiger Schlenzer, den Älteren unter uns als Panenka-Tor bekannt, mit dem der Verteidiger Spanien aus dem Turnier bugsiert. Ein Treffer, der in seiner vollendeten Eleganz so rein gar nichts hat von dem Kraftakt, den Hakimis Team in den vergangenen 120 Minuten plus Nachspielzeit vollbracht hat.    

Kapitän Romain Saiss lässt sich in der 111. Minute einen Oberschenkelverband anlegen, eine Muskelzerrung, doch statt sich auswechseln zu lassen, humpelt er zurück ins Abwehrzentrum. Er will keine Sekunde dieses historischen Moments verpassen, und mag es auch noch so weh tun. 

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Nach einer Sturm-und-Drang-Phase der Marokkaner zu Beginn, haben die Spanier immer besser in ihr Spiel gefunden. Der Ball zirkuliert mit traumwandlerischer Sicherheit. Es ist die gewohnte Zermürbungstaktik, die „La Furia Roja“ bekanntlich in Perfektion beherrscht.

Obwohl das marokkanische Mittelfeld ab und an einen Ball abfischen kann und schnelle Konter startet, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Spanien in der Manier eines Matadors dem Gegner einen Stich versetzt und das Spiel entscheidet.

„Ich bewundere den Stil, den Luis Einrique spielen lässt“, hat Coach Regragui über seinen spanischen Kollegen gesagt, „doch Ballbesitz ist nicht alles.“ Er hat an die Niederlage der Argentinier gegen Saudi Arabien erinnert, bei der die Araber nur ein Fünftel des Spiels mit dem Ball am Fuß verbrachten, am Ende aber 2:1 gewannen.

Doch von so einem Wunder ist an diesem Tag lange nicht auszugehen. Im letzten Spieldrittel haben sich die Nordafrikaner vollends in die eigene Hälfte drängen lassen, Spanien lässt wie eine Handballmannschaft den Ball rotieren und wartet auf die Lücke.

Die marokkanischen Fans sorgen für einen Hexenkessel

Doch es findet sich einfach keine. Obwohl inzwischen die Hälfte der marokkanischen Startelf ausgewechselt ist, machen sich keinerlei Abstimmungsschwierigkeiten bemerkbar. Die ohrenbetäubenden Pfiffe, die über die gesamte Länge jeden Angriff Spanier begleiten, straffen offenbar die Konzentrationsfähigkeit der Spieler.

Mehr als 90 Prozent der 44.667 Zuschauer im Education Stadion stehen auf Seiten Marokkos. Wer bis jetzt noch geglaubt hatte, dass diese WM ein Turnier ist, bei dem nur mit Mühe Stimmung aufkommt, erhält ein sinnliches Fußballerlebnis der ganz besonderen Art.

Walid Regragui hat seinen Spielern von der WM 1986 erzählt. Damals zog Marokko das erste und bislang einzige Mal in seiner Geschichte ins Achtelfinale ein. Nachdem sich auch damals das Team mit aller Kraft gegen die Niederlage stemmte, gelang Lothar Matthäus für den Gegner aus Deutschland drei Minuten vor Spielende der glückliche Siegtreffer.

„Damals waren wir nicht in der Lage, wieder zurückzukommen,“ sagt Regragui. Wohl auch deshalb verbringt der Trainer das komplette Spiel am vordersten Ende seiner Coaching-Zone. Als wolle er seinen Spielern signalisieren: Bloß nicht die Spannung verlieren!

Marokkos Fans verwandelten das Education City Stadium in ein Tollhaus.
Marokkos Fans verwandelten das Education City Stadium in ein Tollhaus.

© IMAGO/Shutterstock

Als sich kurz vor dem Ende der regulären Spielzeit der gerade erst eingewechselte Jawad El-Yamiq nach einem Schubser am Boden windet, offenbar um Zeit zu schinden, fährt der Trainer ihn an, er solle aufstehen.

Als ein Masseur zu Hilfe eilen will, packt Regragui ihn am Arm, zerrt ihn weg und schiebt ihn zurück Richtung Bank. Es ist eine Geste, die mit so viel Überzeugung und Selbstbewusstsein vorgetragen ist, als wolle er sagen: „Wir gewinnen das Spiel, lasst uns keine Zeit auf dem Weg dahin verlieren.“

Trotz des endlosen Powerplays der Spanier kommt die marokkanische Elf in der Verlängerung mit langen Bällen zu Torchancen. Zwei Mal taucht der eingewechselte Walid Chedirra allein vor Keeper Unai Simon auf, doch ihm fehlt schlicht das fußballerische Repertoire, um in dieser aufgepeitschten Atmosphäre die Nerven zu behalten.

Die Coolness, die Cheddira fehlt, besitzen jedoch an diesem Tag Hakimi und Saiss in unbegrenztem Maße. Sie halten die Abwehr zusammen, spielen mit einer Siegesgewissheit, die zeitweise an Arroganz grenzt.

Das Drehbuch dieser Partie sieht für Marokkos Stars keine Fehler vor

Im Angesicht der atemlosen Begeisterung von den Rängen erscheinen die beiden knochigen Verteidiger plötzlich überlebensgroß. Jeder Pass, jede Finte, jede Grätsche von ihnen sitzt und lässt sie noch ein bisschen wachsen. Und in ihrer Euphorie ziehen sie alle Kollegen auf dem Rasen mit.

Im Mittelfeld zieht derweil Hakim Ziyech die Strippen, jeder seiner Pässe findet den Mitspieler. Das Drehbuch dieser Partie sieht für sie alle offenbar keine Fehler vor. Es ist guter Tag, um Geschichte zu schreiben.

Die kleine Gruppe spanischer Fans jubelt noch, als die Platzwahl vorm Elfmeterschießen das Tor in ihrer Kurve zum Schauplatz bestimmt. Sie können nicht ahnen, dass sie gegen die Übermacht an marokkanischen Fans keine Chance haben, um ihren Schützen Sicherheit zu geben. Bereits der der extra für den Shootout eingewechselte Pablo Sarabia trifft nur den Pfosten.

Auf dem Weg zum Punkt werden die Spieler von der iberischen Halbinsel von einer markerschütternden Kaskade aus grellen Pfiffen begleitet, die sich erst in frenetischen Jubel umkehrt, sobald der Strafstoß vergeben ist. Carlos Soler wird in dieser Vorhölle ebenso ein Opfer seiner Nerven wie Sergio Busquets.

Der 34-jährige Busquets weiß am Ende seines wohl letzten WM-Matches in seiner Laufbahn gar nicht, wie ihm geschieht. Er schiebt den Ball halbhoch in die Arme von Keeper Yassine Bono, der nach seiner Verletzung im ersten Gruppenspiel in die Stammelf zurückgekehrt ist und heute wie seine zehn Mitstreiter und sechs Auswechselspieler zum Nationalhelden wird.

Schon der vierte Elfmeter Marokkos kann nach diesem Drama die Entscheidung bringen. Kurzfristig wird Achraf Hakimi als nächster Schütze bestimmt. Als er den Ball in der Mitte, wo eben noch Unai Simon gestanden hat, versenkt, schwingt er den Oberkörper als stolziere er zum stampfenden Beat auf eine Tanzfläche.

Die WM hat einen neuen Star. Marokko bricht mit dem Erreichen des Viertelfinals die Phalanx an erwartbaren Teams aus Europa und Südamerika auf und sorgt für die bislang größte Sensation dieses Turniers. Spätestens jetzt ruhen die Hoffnungen von Afrika und der arabischen Welt auf diesem Team. Es ist wie ein Märchen aus 1001 Nacht.

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