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Hakim Ziyech (rechts) vom FC Chelsea ist der große Star der Marokkaner.

© REUTERS / Foto: Reuters/Amr Abdallah Dalsh

„Ein Wendepunkt in der Geschichte des marokkanischen Fußballs“: In Marokko herrschen WM-Fieber und grenzenloser Optimismus

Wenn Marokko bei dieser Weltmeisterschaft spielt, sind die Straßen im Land wie leergefegt. Anders als in Deutschland ist die Stimmung eher fiebrig-erregt als moralisch geprägt.

Eigentlich war 11 Uhr die schlechtestmögliche Anstoßzeit für die Fans in der marokkanischen Hafenstadt Essaouira. Denn um diese Uhrzeit hing die Sonne in einem wolkenlosen Himmel direkt über dem riesigen Bildschirm, der gegen die alte Stadtwand auf dem Platz Moulay Hassan errichtet worden ist. Als das erste WM-Spiel ihrer Nationalmannschaft lief, mussten die Fans direkt in die Sonne schauen. 

Das schien sie aber wenig zu jucken. Hunderte waren zum Public-Viewing gekommen, um in der grellen Mittagssonne mit ihrer Mannschaft zu zittern: Geschäftsmänner in gebügelten Anzügen, Kinder im Schulalter, die Fischer vom Hafen nebenan, Touristen, Paare und Familien. In einer Ecke standen zwei Frauen im Kostüm: Sowohl ihre Hijabs als auch ihre Wikingerhüte strahlten in den rot-grünen Nationalfarben.  

Mit einem solchen Zustrom hatten die Behörden offensichtlich auch gerechnet: An der Seite stand eine Reihe Polizei-Transporter. Doch die Beamten, die da herumstanden, langweilten sich. Die Stimmung war friedlich und festlich, denn auf dem Bildschirm lief alles bestens. Tausende Kilometer entfernt in Katar erkämpfte sich Marokko ein hoch verdientes 0:0 gegen Vizeweltmeister Kroatien. 

Bei der WM 1986 in Mexiko gelang Marokko der größte Erfolg. Erst im Achtelfinale gegen Deutschland (links Karl-Heinz Rummenigge) war für Lahcen Ouadani und Co. Schluss.

© Foto: Imago/Laci Perenyi

Eine Überraschung. Bei ihrer ersten WM 1986 qualifizierte sich Marokko als erste afrikanische Mannschaft der Geschichte für das Achtelfinale, seitdem ist die WM-Bilanz eher mau: 1994, 1998 und 2018 schied Marokko in der Vorrunde aus. Mehr hatte man bei diesem Turnier auch nicht erwartet, doch vor dem zweiten Gruppenspiel gegen Belgien am Sonntag (14 Uhr, ZDF) wächst plötzlich die Hoffnung. „Das Spiel gegen Kroatien war ein Wendepunkt in der Geschichte des marokkanischen Fußballs“, schrieb die Nachrichtenseite Medias24 am Freitag. „Es gibt jetzt die Zeit vor Walid und die Zeit nach Walid.“ 

Walid is Walid Regragui, der Nationaltrainer, der erst im vergangenen August von Vahid Halilhodzic übernahm und das Land wieder zum Lächeln gebracht hat. Der Bosnier hatte Marokko zwar zur WM geführt, dabei aber auch für böses Blut gesorgt.

Denkwürdig war vor allem, wie der Chelsea-Star Hakim Ziyech nach einem Streit mit dem Trainer aus der Nationalmannschaft zurückgetreten war. Unter Regragui spielt er jetzt wieder. Es wäre „Haram“ – ein Tabu – ohne Ziyech bei einer WM anzutreten, sagte der neue Trainer vor dem Turnier. 

Das war eine populäre Entscheidung. Denn auch, wenn Ziyech bei Chelsea zuletzt eher eine Nebenrolle gespielt hat, bleibt er in Marokko der Star schlechthin. Fast jedes zweite Trikot auf den Straßen Essaouiras trägt seinen Namen und die Nummer 7. Gegen Kroatien löste jede seiner Ballannahmen ein kollektives Einatmen aus, in der Erwartung von etwas Besonderem. 

Dabei war es nicht die Leistung des Offensivstars, die im Auftaktspiel so überzeugt hat, sondern vor allem das Abwehrverhalten. Bei Medias24 schwärmte man von dem abgezockten Pragmatismus der Nationalspieler: „Die Blauäugigkeit der Vergangenheit war weg. Sie wollten die Zuschauer nicht mehr um jeden Preis unterhalten. Kurz: Marokko spielte wie eine europäische Mannschaft.“

Wir sind in der Todesgruppe, aber unser Job ist es, das marokkanische Volk glücklich und stolz zu machen.

Marokkos Nationaltrainer Walid Regragui peilt das Achtelfinale an

Eine große Überraschung sollte das nicht sein, denn wie immer besteht diese Mannschaft aus vielen Menschen mit europäischen Einflüssen. Regragui ist in Frankreich geboren, Ziyech in den Niederlanden, ebenso wie der Verteidiger des FC Bayern, Noussair Mazraoui.

Gleich drei Spieler im marokkanischen Kader, darunter auch Mittelfeldstar Selim Amallah, sind gebürtige Belgier. Vor der WM hatte Belgiens Trainer Roberto Martinez auch deshalb sogar von einem „Derby“ gegen Marokko gesprochen.

Wie vor einem Derby zeigte sich auch Regragui am Samstag auf der Pressekonferenz hochmotiviert und kämpferisch. Mazraoui könne trotz seiner gegen Kroatien erlittenen Verletzung spielen, sagte er. Und überhaupt sei seine Mannschaft nicht nur auf ihre Stars angewiesen. „Gegen Kroatien haben wir eine Mannschaft gesehen, die konzentriert war, die viel gelaufen ist, die den Matchplan respektiert hat. Deswegen bin ich voller Selbstvertrauen. Wir müssen diesen kämpferischen Esprit beibehalten“, sagte der marokkanische Trainer. 

Dabei strahlte er die Mischung aus Ehrgeiz und Realismus aus, die ihn schön länger auszeichnet. Vor dem Turnier hatte Regragui ganz offen gesagt, dass er als Nationaltrainer Titel gewinnen möchte und gerade deshalb eher auf den Afrika-Cup als auf die Weltmeisterschaft schaue.

Am Samstag war er hingegen ganz im WM-Modus und schlug einen ähnlich pragmatisch-furchtlosen Ton an. „Wir wollen uns qualifizieren. Wir sind in der Todesgruppe, aber unser Job ist es, das marokkanische Volk glücklich und stolz zu machen”, sagte er. Als die PK zu Ende ging, gab es Beifall von den Journalisten. 

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