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Der Neue ganz oben. André Schürrle stand erstmals bei der EM in der Startelf und wurde für seine Leistung von Sami Khedira eine Etage höher befördert.

© dapd

Unberechenbar gut: Der deutsche Erfolgsplan

Joachim Löw wagt mit seinen Umstellungen für das Viertelfinale gegen Griechenland viel und gewinnt hoch. In die Freude über den Erfolgsplan mischt sich aber auch Ärger über ein Leck.

Es ist noch nicht ganz klar, mit welchen Sanktionen Joachim Löw vonseiten der Europäischen Fußball-Union rechnen muss, aber angesichts des strengen Uefa-Regiments ist es nur schwer vorstellbar, dass der Bundestrainer unbeschadet aus der Sache herauskommt. Der Tatbestand, der ihm zur Last gelegt wird: unerlaubtes Verlassen des Innenraums ohne vorherige Anmeldung in dreifacher Ausfertigung. Knapp 25 Minuten waren im Viertelfinale der deutschen Nationalmannschaft gegen Griechenland vorüber, da reichte Löw ein normaler Wutausbruch nicht mehr, um seine Emotionen zu kanalisieren. Seine Wutpirouette ging nahtlos in einen Sprint in den Kabinengang über. Ob er sich einen Espresso habe holen wollen, wurde der Espresso-Liebhaber Löw nach dem 4:2-Sieg seiner Mannschaft gefragt. „Es hat nicht gereicht zum Espresso-Holen“, antwortete er. Denn kaum sei er in den Katakomben gewesen, da wurde schon die nächste Chance vergeben. „Das habe ich irgendwie am Aufschrei gehört, da bin ich wieder zurück.“

Die Verärgerung des Bundestrainers war – so paradox das klingen mag – fast das größte Kompliment, das er seiner Mannschaft machen konnte.

Nachdem die Deutschen sich schon leise Kritik an ihren trägen Offensivbemühungen hatten anhören müssen, war der Auftritt gegen die Griechen so energetisch wie lange nicht. Ausgerechnet gegen einen Gegner, der es wie kein zweiter versteht, ein gewisses Trägheitsmoment ins Spiel zu bringen. „Die Griechen haben nur vor dem eigenen Sechzehner gestanden, haben sich eingeigelt, den Rhythmus zerstört und das Spiel verlangsamt“, sagte Löw. Trotzdem kam seine Mannschaft allein in der ersten Hälfte zu zehn Torchancen. „Wir haben es nicht mehr geschafft zu atmen“, sagte Griechenlands Trainer Fernando Santos.

Video: Deutschland schlägt Griechenland

Die deutsche Dominanz war unter anderem einem gewagten Plan von Joachim Löw zu verdanken. Er hatte gleich drei Offensivspieler aus seiner bisherigen Stammelf (Lukas Podolski, Mario Gomez und Thomas Müller) auf die Bank gesetzt und stattdessen den zweiten Sturm aufgeboten. „Die drei Vorderen haben sehr gut gespielt, das war der Schlüssel zum Sieg“, sagte Löw. Miroslav Klose spielte in der Spitze, Marco Reus rechts und André Schürrle links. „Das war eine sehr gute Entscheidung von Herrn Löw“, sagte Santos. „Sie ist voll aufgegangen.“

Löw wollte überraschen, aber die Aufstellung sickerte wieder einmal vorher durch

Klose erzielte nicht nur das Tor zum 3:1, er brachte sich auch besser ins Kombinationsspiel ein als Gomez. Er lief viel, verließ häufig seine Position in der Sturmmitte und versuchte dadurch Lücken in die Abwehr zu reißen. Reus, zuvor noch ohne Einsatz bei der EM, war in der ersten halben Stunde der auffälligste Spieler der Deutschen: viel unterwegs, oft am Ball, nur etwas unglücklich im Abschluss. „Unser Ziel war es, in die Schnittstellen zu kommen, um die Griechen permanent unter Druck zu setzen, ihnen so das Gefühl geben, heute geht nichts“, sagte der Gladbacher, der nach der Pause zum 4:1 traf. Schürrle blieb als Einziger der Neuen ohne Tor, war aber in der Offensive weit auffälliger, als es Podolski bisher gewesen war. Allerdings unterliefen ihm auch ein paar Abspielfehler, von denen einer zum 1:1 führte. „Natürlich weiß ich, dass ich eine Mitschuld habe“, sagte der Leverkusener. „Aber insgesamt war das ganz ordentlich.“

Bildergalerie: Wie Fans beider Mannschaften das Spiel erlebten:

In der Heimat lässt sich die Euphorie schon jetzt kaum noch steigern. Die Jubelbilder aus Deutschland waren den Nationalspielern am Nachmittag zur Einstimmung gezeigt worden, 27 Millionen Zuschauer verfolgten am Abend das Viertelfinale im Fernsehen. Demnächst könnte man zur Motivation des Teams auch Passagen aus der ausländischen Presse rezitieren. Der Respekt hat eine neue Höchstmarke erreicht. Immer häufiger werden die Mitglieder der Nationalmannschaft jetzt von ausländischen Journalisten gefragt, ob sie das stärkste Team des Turniers seien.

Video: Griechische Fans zeigen sich als faire Verlierer

Ein Grund ist, dass der Bundestrainer auf der Bank keine Ergänzungsspieler sitzen hat, sondern vollwertigen Ersatz. „Wir sind auf jeder Position doppelt besetzt“, sagt Klose. „Das kann derzeit kein anderer bieten.“ Löw wurde trotzdem gefragt, ob die Wechsel die mutigste Entscheidung seiner Trainerkarriere gewesen seien. Immerhin hatte er alle bisherigen EM-Torschützen aus der Mannschaft genommen. Nein, antwortete er, „sonst hätte ich es ja nicht gemacht“. Das Risiko hielt Löw für überschaubar. „Der Plan ist mir schon länger ein bisschen im Kopf rumgegeistert“, berichtete der Bundestrainer. Er wollte gegen die sperrigen Griechen andere Spielertypen in der Offensive haben, Spieler, die sich geschickt zwischen den Linien bewegen und sich durch die Barrieren winden. „Heute war der Tag der Veränderung“, sagte Löw, „heute wusste ich: Im vorderen Bereich müssen wir unberechenbar sein.“

Das Überraschungsmoment wurde jedoch ein wenig davon konterkariert, dass die Meldung von den personellen Wechseln bereits Stunden vor dem Spiel auf dem Markt war. „Wir wussten es schon seit dem Mittag“, sagte Griechenlands Trainer Santos. Im vierten Turnierspiel der Deutschen wurde die Aufstellung zum dritten Mal vorzeitig bekannt. „Irgendwo muss da ein Leck sein“, mutmaßte Schürrle. Löw hat das Thema schon vor der Mannschaft angesprochen, natürlich sei es nicht in seinem Sinne, dass solche Informationen vorzeitig nach draußen gelangen. Aber von den Spielern komme es nicht, „diese Versicherung habe ich“, sagte Löw. „Es sind andere Kanäle, wo das durchsickert. Aber letztendlich wird man das auch nicht rausfinden.“ Vermutlich wird es ihm im Moment auch egal sein.

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