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Einmal Überflieger. Die Grundlagen stimmen. Bis zum Weltrekord von 2,45 Meter muss unser Autor mit Trainer Günter Roick aber noch an vielen Details feilen.

© Thilo Rückeis

Unser Zehnkampf vor der Leichtathletik-EM: Hochsprung: Sotomayor, jetzt bist du fällig!

Der Hochsprung-Weltrekord wackelt – und unser Autor verfehlt ihn am Ende nur um 75 Zentimeter. Teil neun unserer Serie zur Leichtathletik-EM.

Von David Joram

Laufen, springen, werfen – die Disziplinen der Leichtathletik sind Sport in seiner klassischsten Form. Doch sie sind schwieriger auszuüben, als sie aussehen. Bis zur Europameisterschaft vom 7. bis 12. August in Berlin probieren wir in unserer Serie „Tagesspiegel-Zehnkampf“ zehn Disziplinen unter professioneller Anleitung aus und beschreiben, worauf es dabei ankommt.

Hoch hinaus. Das wollte ich schon immer. Im Sportforum Hohenschönhausen soll es wieder mal soweit sein. Saftig grün liegt der Rasen da, die Sonne brennt, mein Körper auch. Ich bin heiß wie flüssige Lava. Im Leichtathletik-Stadion will ich die imaginären zehntausend Fans auf den blauen Sitzschalen zum Brodeln bringen – mindestens aber Günter Roick, meinen Hochsprung-Trainer für einen Tag.

Roick, ist ein, wie er selbst sagt, „Mann der alten Schule“ – hart, präzise, herzlich. Ihn ficht meine ohnehin schon ins grenzenlose schwappende Euphorie nicht weiter an. „Ein Talent setzt sich gegen den schlechtesten Trainer durch“, sagt er und lacht. In meiner nur von einem Nussnougatcroissant und Kräutertee angereicherten Magengrube spüre ich ein angenehmes Kribbeln. Dass ich, ein nur mittelmäßig begabter Fußballer, Talent fürs Hochspringen mitbringe, weiß ich bereits.

Nur ein selbst erzieltes Tor kann mithalten

Es war im Jahr 2009, Abi-Prüfung im heißgeliebten Fach Sport. Als der Druck am größten war, hob ich ab, flog wie einst Michael „Air“ Jordan durch die Luft, nur nicht mehrere Kilometer Richtung Basketballkorb, sondern über die bei 1,75 Meter aufgelegte Latte. Was für ein Gefühl! Unbeschreiblich. Nur ein selbst erzieltes Tor beim Fußball kann da mithalten, finde ich. Und das beschrieb der frühere Bundesliga-Torschützenkönig Fredi Bobic glücklicherweise mal sehr präzise: „Tore schießen ist besser als ein Orgasmus, weil da die Freude überall rauskommt.“

Darum bin ich hier. Ich will dieses Gefühl nochmal erleben, nochmal diese magischen 1,75 Meter knacken, die nur 70 Zentimeter vom 1993 aufgestellten Weltrekord des Kubaners Javier Sotomayor entfernt sind. Und, wer weiß: Vielleicht geht unter Roicks Anleitung noch mehr, fast auf den Tag genau 25 Jahre nach Sotomayor. Roick trainiert schon 40 Jahre lang Kinder und Jugendliche, er zeigt ihnen die Tricks und Kniffe, feilt mit ihnen an den Details des Fliegens. Seine Erfolgsformel: „Mit dem richtigen Training, den richtigen Leuten und zur richtigen Zeit ist alles möglich.“ Er zwinkert.

Ich finde: Für mich ist alles möglich. Die Fakten sprechen leider eine andere Sprache. 30 Grad plus x, keine vier Stunden Schlaf, kein Training, keine Spikes. Ignoriere ich alles. Der Moment zählt.

Bevor Roick die Latte auf 1,75 Meter legt, muss ich mich aber gedulden. Erstmal Warmmachen. „Sprungorientiertes Lauf-ABC“, sagt Roick. Wir beginnen mit lockeren Übungen – Hopserlauf, Absprung links, Absprung rechts, Arm-Parallel-Schwung. Ein paar lockere Schersprünge folgen, die laut Roick „eigentlich Steigesprünge heißen müssten“. Einstiegshöhe: 1,10 Meter. Alles kein Problem – bis Roick dazu auffordert, auch mal mit dem rechten Bein abzuspringen. Dabei ist doch der linke mein starker Sprungfuß. „Es ist wichtig, die Beidseitigkeit zu testen“, sagt Roick, „gerade in jungen Jahren“. Der Mann ist 64, ich 28. Also testen wir.

Nach drei Schritten rückwärts über die Stange

„Manche, vor allem Mehrkämpfer, stellen auch später nochmal um, damit die Belastung besser aufgeteilt ist. Es gibt aber auch diejenigen, die festgefahren sind, die sich sperren.“ Ich zähle zur zweiten Gruppe. Wir bleiben beim linken Bein und laufen deshalb von der rechten Seite an. Erst mit drei Schritten und klarem Rhythmus: Links, rechts, links. Ich hopse einen gemächlichen Viertelkreis, versuche die Arme wie vorgegeben eng am Körper hochzuziehen – und springe den Fosbury-Flop, 1968 von Dick Fosbury eingeführt, rückwärts über die Stange. Eine Höhe nach der nächsten purzelt. 1,30 Meter. 1,40. 1,45. 1,50. Läuft bei mir. Auch Roick, der erzählt, dass der Flop-Stil erstmals 1963 vom Thüringer Roland Fink gesprungen worden sei, ist zufrieden.

Das Gesamtpaket (Anlaufbogen, Absprungwinkel, Flughaltung, Armschwung, und vieles mehr) kriege ich allerdings nicht hundertprozentig zusammen. Roick sieht das, korrigiert aber nur die gröbsten Böcke. „Wenn du hoch willst, gehst du vorher auch nicht in den Keller“, grantelt er liebevoll, als ich beim Absprung – wieder mal – zu tief in die Hocke gehe. Zeit für eine Zwischenübung. Wir legen die Latte auf weit über zwei Meter. „Sotomayor, jetzt bist du fällig!“, sage ich mir in einem kurzen Anflug größenwahnsinniger Schaffenskraft, die ein Mix aus staubtrockener Stadionluft und erdrückender Schwüle begünstigt haben muss. „Nur den Arm Richtung Stange strecken“, ruft Roick derweil. So will er meinen Absprung verbessern, nach oben soll ich mich orientieren.

Endlich wieder die Schwester überspringen

Hervorragend eingestellt, geht’s in die entscheidende Phase. 1,55 Meter. 1,60. Mühelos. Die Brust wird breiter. 1,65. Ja! Ja! Ja! Bobic lässt grüßen. „Noch mehr? Jetzt 1,70 Meter?“, fragt Roick. Sonst hätte ich ja im Bett bleiben können, denke ich. Versuch eins misslingt, beim zweiten bin ich drüber. „Da ist noch Platz“, findet Roick. Crunchtime! Nach neun Jahren. So sehen wir uns wieder. Die 1,75 und ich. Wenn ich die schaffe, werde ich meine Schwester künftig (wieder) überspringen können.

Versuch eins – misslingt ziemlich knapp. Ärgerlich. Vor dem zweiten merke ich, dass das „Bedingungsgefüge“ (Roick) nicht mitspielt. Die Schwüle lastet schwer auf mir, die vom Nussnougatcroissant gefüllten Energiespeicher sind nach der Schinderei leer. Trotzdem schreit der Kopf: spring! Ich laufe an, springe – und knalle gegen die Latte. Das Schlechteste zum Schluss. Roick bricht ab, die Luft in dieser Höhe ist für mich zu dünn. Mehr ist nicht drin. Vorerst jedenfalls.

Bisher erschienen: Dreisprung (20. Juli), Hürdenlauf (24. Juli), Kugelstoßen (26. Juli), Gehen (28. Juli), 100-Meter-Lauf (30. Juli), Staffellauf (31. Juli), Diskuswurf (1. August), Speerwurf (2. August).

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