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Beistand von oben? Können die Brasilianer knapp drei Monate vor dem Start der WM ganz gut gebrauchen.

© imago

Fußball-Weltmeisterschaft: Wage es, Brasilien zu sein

Knapp drei Monate vor dem Start der Fußball-Weltmeisterschaft wird die oberste Mission für Brasiliens Nationalteam im deutlicher: die Seleção soll den WM-Titel holen. Ihr tatsächlicher Auftrag ist sogar noch schwieriger: ein ganzes Land versöhnen.

Den größten Aufreger gibt es in Minute neun. Oscar dos Santos Emboaba Junior hat den Ball gerade mit brasilianischer Eleganz zum 1:0 in das Tor von Südafrika gezirkelt, doch der Reporter von TV Globo, Brasiliens übermächtiger Medienanstalt, ist mit seinen Augen woanders. Er liest gerade Werbung für eine Internetseite seines Senders vom Zettel ab, und so bleibt das „Goooool“ aus, der langgezogene Torschrei, der normalerweise jeden Treffer in Brasilien begleitet.

Der Reporter Galvão Bueno ist eine lebende Legende. Er kommentiert alle Spiele der Seleção, also der Nationalmannschaft, und natürlich entschuldigt er sich sofort beim Publikum. Aber es dauert nur Sekunden, bis auf Twitter zu lesen ist: „Imagina na Copa!“ – Wie soll das erst bei der WM werden!

Es ist ein geflügeltes Wort in Brasilien und spielt auf die immer noch nicht fertigen Stadien, den chaotischen Verkehr und die astronomischen Ticketpreise an. Die Brasilianer werden schon mal sarkastisch, wenn es um die Fähigkeiten ihres Landes zur Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft geht, die in drei Monaten in São Paulo angepfiffen wird. Überraschend skeptisch sind sie zwischen Fortaleza im Norden und Florianopolis im Süden auch beim Blick auf die Chancen ihrer Nationalmannschaft. Die Seleção brasileira genießt zwar im Gegensatz zum Weltverband Fifa und den einheimischen WM-Planern riesige Sympathien. Doch von der Hexa, dem sechsten Weltmeistertitel, mag niemand so recht sprechen. Deutschland und Spanien gelten als starke und erfahrenere Konkurrenten, und dann sind da auch noch die ungeliebten Nachbarn aus Argentinien – nicht auszudenken, sollten sie die Copa nach Buenos Aires entführen.

Für die neue brasilianische Bescheidenheit wird nun oft der Heimkomplex verantwortlich gemacht, das unvergessene Drama bei der ersten WM in Brasilien, es war im Jahr 1950 die bislang einzige, in der es kein Endspiel, sondern eine Vierer-Endrunde gab. Im letzten Spiel hätte den Brasilianern gegen Uruguay ein Unentschieden gereicht. 200 000 Zuschauer im Maracana-Stadion von Rio de Janeiro feierten schon lange vor dem Anpfiff, die brasilianischen Zeitungen würdigten ihre Weltmeister mit Sonderausgaben, aber Uruguays Flügelstürmer Alcides Ghiggia mochte sich nicht in die vorbereitete Choreografie fügen und schoss kurz vor Schluss das Siegtor zum 2:1. Totenstille im Maracana. „Ich sehe immer noch meinen Vater, wie er vor dem Radio saß und wie er weinte, als das zweite uruguayische Tor fiel“, hat der große Pelé unlängst erzählt.

Ja, das war wahrscheinlich furchtbar für die fußballvernarrten Brasilianer. Aber das moderne Brasilien ist nicht mehr das von 1950, das über den Fußball Anerkennung suchte auf der Welt. Damals hatte die Regierung ohne nennenswerte Proteste ein ganzes Stadtviertel niedergewalzt und unter dem Beifall der Bewohner das Maracana hochgezogen. Heute wäre so etwas undenkbar. Die Probleme des Brasilien von 2014 spielen sich nicht zwischen den Kreidestrichen eines Fußballplatzes ab. Sondern in den maroden Schulen und Krankenhäusern. Im Elend der Favelas, wie die Slums hier heißen. Kurzum: im immer noch dramatischen Gefälle zwischen Arm und Reich. Trotz des jüngsten Booms.

Anders als in den vergangenen Jahren hat die Seleção diese Probleme zuletzt nicht kaschieren können, auch nicht mit ihrem großartigen Siegeszug beim Confed-Cup im vergangenen Sommer. Das Volk hat zu Hunderttausenden aufbegehrt gegen die Regierenden, trotz des schönen, des erfolgreichen Fußballs. Das wird auch bei der Copa nicht anders sein. Die Frage ist nur: Wie heftig reagiert das Volk, wenn die Seleção versagt, wenn trotz aller milliardenschwerer Ausgaben nicht der WM-Titel abgeliefert wird?

Wie sich Nationaltrainer Scolari das neue Brasilien vorstellt

Ein Mann steht für die Hoffnung, der Fußball möge doch ein wenig beitragen zur Befriedung dieses zerrissenen Landes. Luiz Felipe Scolari, der grummelige Nationalcoach, den alle nur Felipão nennen: großer Felipe. Scolari strahlt die Aura eines Feldherren aus. Und wehe, ein Soldat wagt daran zu zweifeln. Diese Ehrfurcht verdankt er seinem größten Erfolg, auch wenn er schon ein wenig angejährt ist. 2002 hat er Brasilien zum fünften und bislang letzten Mal zum Weltmeister gemacht. Brasilien, das nach Eigendefinition fortschrittlichste Land der Welt, dreht sich beim Fußball gern zurück. Es geht dabei um die Zeit, da das Spiel noch ein bisschen mehr HackeSpitzeEinsZweiDrei war und der brasilianische Führungsanspruch dank Pelé, Garrincha oder Zico unbestritten. Seitdem ist Brasilien auf alle Ewigkeit dazu verdammt, nicht nur erfolgreich zu spielen, sondern vor allem schön: „Jogo bonito“ heißt die auf dem internationalen Fußballmarkt geschützte Marke. Ein Anspruch, dem sich jeder Nationaltrainer unterzuordnen hat. Nur mit Felipão ist so etwas nicht zu machen.

Der Mann ist 65 und über alle Anbiederung erhaben. Die Brasilianer hätten ihn kaum zurück aus der Rente geholt, wenn denn die Not nicht so groß gewesen wäre. Im November 2012, als die Seleção so schlecht und unansehnlich und erfolglos spielte, dass das Unternehmen Copa 2014 in ernsthafte Gefahr geriet. Felipão war gerade beim Traditionsklub SC Palmeiras in São Paulo entlassen worden. Aus den Canarinhos, den Kanarienvögeln, wie die brasilianischen Nationalspieler wegen der gelben Trikots auch heißen, formte er endlich wieder eine Einheit. Seine Mannschaft ist eine gute Mischung aus älteren Spielern wie dem 30-jährigen Verteidiger Dani Alves vom FC Barcelona und Stürmern wie Oscar, der mit seinen 22 Jahren das Publikum beim FC Chelsea verzückt.

Scolari verzichtet bewusst auf die alte Nomenklatura. Er will ein neues Brasilien auf den Fußballplatz bringen, hat sich dafür von Diven wie Ronaldinho getrennt und dem Team Disziplin und taktisches Verständnis vermittelt. Einzig Neymar, der nach neuesten Berechnungen gut 100 Millionen Euro schwere Star vom FC Barcelona, genießt so etwas wie Narrenfreiheit.

Neymar steht ein wenig für das alte Brasilien, für die Kunst um der Kunst willen, und wenn ihm der Sinn danach steht, unterhält er das Publikum gern mit Übersteigern, Hüftwacklern und Sohlenstreichlern. Er kann aber auch ein ganz großartiger Fußballspieler sein. Beim Confed-Cup im vergangenen Sommer schoss er wunderschöne Tore, bereitete andere wunderschön vor und wurde nicht ganz überraschend, aber hochverdient zum besten Spieler des Turniers gewählt. Solange die Mannschaft davon profitiert, lässt sie dem Gockel Neymar seine Eigenarten durchgehen. „Wir sind eine Siegertruppe“, sagt der Publikumsliebling Fred, einer der wenigen Nationalspieler, der sein Geld in der Heimat verdient, beim FC Fluminense in Rio de Janeiro.

Der Stürmer Fred steht für einen brasilianischen Stil, der so gar nicht zum Samba-Klischee passt. Fred zaubert nicht, er arbeitet, in der Luft wie am Boden, er ist mehr Athlet denn Ästhet, und seine Tore erzielt er so unspektakulär und selbstverständlich wie früher Gerd Müller. Es ist die Balance aus seriösen Spielern wie Fred und Individualisten wie Neymar, die das neue Brasilien so gut und erfolgreich macht.

Der Gewinn des Confed-Cups mit einem 3:0 im Finale gegen Weltmeister Spanien ist der bisher größte Erfolg des neuen Projekts. Und gilt doch als schlechtes Omen. Drei Mal hatte Brasilien den Confed-Cup zuvor geholt (1997, 2005, 2009) und dreimal bei der anschließenden WM versagt. Diesmal soll es anders werden, diesmal soll der Gewinn des Confed-Cups ein Zeichen sein. Nach dem Triumph über die erfolgsverwöhnten Spanier sangen 75 000 Brasilianer im Maracana spontan die Nationalhymne. So laut und so überzeugt, dass sogar der sonst so beherrschte Luiz Felipe Scolari vor Erregung zitterte. „Habt ihr das gehört?!“, rief Felipão den brasilianischen Reportern zu und wiederholte immer wieder den Vers des Volkes, der ihn so angerührt hatte: „O campeão voltou! O campeão voltou!“

Der Champion ist zurück!

Nun stand am Mittwoch das letzte Vorbereitungsspiel auf dem Plan, ausgerechnet in Südafrika, wo die Mannschaft 2010 an den Niederlanden gescheitert war. Damals, im Viertelfinale von Port Elizabeth, hatte Brasilien nicht gespielt und nicht gekämpft. Noch während im Mannschaftshotel tränenreich der Abschied von Trainer Carlos Dunga begangen wurde, sammelten sich draußen die Fans. Sie hatten ihre Vuvuzelas dabei, die südafrikanischen Trompeten, sie klangen wie Trompeten aus der Hölle und bereiteten der Mannschaft eine schlaflose Nacht.

Die Rückkehr nach Südafrika war daher 98 Tage vor dem WM-Eröffnungsspiel in São Paulo gegen Kroatien auch als Symbol zu verstehen. Und passenderweise spielte die Seleção auch nicht in Port Elizabeth, sondern in der Soccer City von Johannesburg, wo 2010 das Finale stattgefunden hatte. Nur der Termin war unglücklich gewählt. Am Aschermittwoch zogen die letzten betrunkenen Karnevalstruppen durch Rio de Janeiro, wo sich der Müll wegen eines Streiks der Müllmänner türmte. Andere schliefen ihren Rausch aus oder saßen beim Kateressen. So kam es, dass die Seleção die Südafrikaner 5:0 vom Platz schubste, aber in Brasilien niemand hinschaute. Wie der Reporter Galão Bueno.

Außerdem wurde am Mittwoch auch noch die beste Sambaschule gewählt. Das Votum der Jury war Aufmacher in den Abendnachrichten. Es gewannen die Unidos da Tijuca, die mit einem sportlichen Thema durchs Sambódromo marschiert waren: Ayrton Senna. Der Formel-1-Weltmeister ließ sein Leben vor zwanzig Jahren bei einem Unfall und rührt die Brasilianer bis heute zu Tränen.

Damit die Brasilianer ihrer Seleção einen Karnevalsumzug schenken, braucht sie wohl nur den WM-Titel zu holen. Am besten gegen Uruguay im Finale am 13. Juli im Maracana. Auf T-Shirts, die der Teamsponsor Nike für 30 Euro verkauft, sind die Silhouetten einiger Spieler zu sehen. Dazu die Unterschrift: „Ouse Ser Brasileiro!“ Wage es, Brasilianer zu sein!

So ganz traut sich das noch nicht jeder zwischen Fortaleza und Florianopolis.

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