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Fest in der Mitte der Gesellschaft verankert: Das Brandenburger Tor und der WM-Titel.

© dpa

Willmanns Kolumne: Wie ich dreimal Weltmeister wurde

Als die DDR 1974 ausgeschieden war, schwenkte unser Kolumnist wie seine Mitschüler auf die BRD-Elf um. Der Anfang einer Revolution? 1990 leistete er Widerstand gegen experimentelle Künstler. Und dann folgten Rausch und Ernüchterung.

Meine erste Weltmeisterschaft wurde mir 1974 vom RFT Fernsehgerätewerk Stassfurt geschenkt. Der Fernseher mit der anmutigen Bezeichnung Color 21 schmückte bereits seit einem Jahr unser Wohnzimmer. Meine Eltern hatten ihn für 3600 DDR-Mark gekauft. Das war eine hübsche Stange Geld und entsprach in etwa drei Monatslöhnen meines Vaters.

Man konnte diese Fernseher nicht einfach so kaufen. In der DDR-Mangelwirtschaft ging vieles über eine anständige Bestellung. Wenn man Glück hatte, lag nach einem halben Jahr eine Karte im Briefkasten. Der Fernseher soundso steht zur Abholung in der RFT-Kaufstelle bereit. Meine Eltern handelten mit Zigaretten und Alkohol. Auch hier gab es immer wieder Engpässe bei besonders beliebten Marken. Legte man genug Mangelerzeugnisse zur Seite, war es über einen Tausch, der manchmal zum Ringtausch geriet, möglich, früher an bestimmte rare Erzeugnisse zu gelangen.

Der Color 21 stand zwischen zwei Fenstern. Ich ging immer sehr vorsichtig vorbei. Der Fernseher war in gewisser Weise ein Heiligtum. Er brachte den Westen in unser Wohnzimmer. Ich war elf, kickte bei Motor Weimar und war fußballerisch auf der Höhe meiner Karriere. Zu WM-Beginn feuerten meine Freunde und ich die DDR-Fußballnationalmannschaft an. Weil sie „von uns waren“, ein Stück Heimat. Wir wurden von StaatsbürgerkundelehrerInnen gegängelt und karrierebewussten FDJ-SekretärInnen ein bisschen gequält. Wir logen wir im Unterricht und sagten „Wir hassen den BRD-Imperialismus in jeder Gestalt, in der er uns begegnet!“ Nicht weil wir linientreu waren, sondern weil wir unsere Ruhe haben wollten. Wie unsere Eltern, die sich mit dem DDR-Sozialismus arrangiert hatten.

Ich fotografierte Gerd Müller vom Fernseher ab, er hielt den Pokal

Erst nach dem Ausscheiden der DDR schwenkten wir auf die BRD um. Die Deutschen aus dem Land der Ado-Gardine mit der Goldkante, der Lux-Seife und der Sprengel-Schokolade. Beim Endspiel gegen Holland waren alle Zonis BRD. Ich sah das Spiel mit meiner Familie und einigen Freunden meiner Eltern. Mutter wischte drei vorwitzige Staubkörner vom Gehäuse. Mein Vater streichelte mit der Hand über unseren Color 21, die Freunde nickten anerkennend. Im Augenblick, als die BRD Weltmeister wurde, fotografierte ich Gerd Müller vom Fernseher ab. Er hielt den Pokal mit beiden Händen fest. Und lächelte in sich gekehrt. Das Foto hing einige Jahre an der Wand über meinem Bett.

Nach dem Sieg prosteten sich die Erwachsenen zu. Ich bekam mein erstes Bier. In der Schule flüsterten wir aufgeregt in den Ecken über das Spiel. Natürlich hatten es alle gesehen, selbst der verhasste Vopo-Sohn. Wir schauten die FDJ-Sekretärin aufmüpfig an. Sie guckte weg. War das der Anfang einer Revolution? „Ihr tauben Nüsse, wie könnt ihr euch an diesem kindischen Spielen der Kapitalisten erfreuen!“ Im Staatsbürgerkundeunterricht priesen wir anderntags die Vorzüge des Sozialismus gegenüber dem menschenverachtenden BRD-Kapitalismus. Ich malte unter die Schulbank ein Victoryzeichen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt schaute sich das Spiel nicht einmal im Fernsehen an.

Meine zweite Weltmeisterschaft erlebte ich 1990 in einer Galerie in Köln. Sie gehörte einem abgemusterten Sannyasin. Er zeigte experimentelle Kölner Künstler. Die Künstler waren irgendwie links. Links war im Westen in. Allein wegen der Wende und der vielen doofen Zonis. Man konnte sich mit lokalem Leichtbier betrinken. Im angrenzenden Garten stand ein Fernseher. Blaupunkt ALABAMA MP45 COLOR. Blaupunkt war einst eine stolze deutsche Marke. Der Galerist hatte den Fernseher von einigen linken Kölner Künstlern bemalen lassen. Mit stilisierten  Hakenkreuzen und so. Der Fernseher zeugte von ihrer Verachtung des Schweinesystems, des Scheißkonsumterrors  und der allgemeine Verblödung.

Fußball war was für Stammtischidioten, Bundeswehrsoldaten und Zonis

Als das Finalspiel BRD-Argentinien angepfiffen wurde, interessierte das die Mehrheit der Galeriebesucher, in der Mehrheit aufstrebende Kölner Künstler samt Begleitung, nicht. Ein kleines Häufchen Fußballinteressierter fand sich schüchtern vor der Glotze ein. Ich mit meinen Kumpel J. mittendrin. Uns war die Verachtung der Mehrheit sicher. Fußball ist was für Stammtischidioten, Untermenschen aus dem bergischen Land und Bundeswehrsoldaten. Und für Zonis. Das stimmte zumindest an diesem Tag, da bis auf eine Ausnahme sich nur Zonis um den Fernseher tummelten.

Die Ausnahme war der Ex-Sanyassin und Galerist. Ich fragte ihn, wieso er Sanyassin gewesen sei. Er grinste mich an und sagte: „Als erstes Gebot hatte uns der Meister querbeet rumvögeln verordnet“. Mein Kumpel J. vertrug die Leichtbiersuppe nicht und verbrachte die zweite Halbzeit schlafend auf der Türschwelle in den Garten. Die linken Kölner Künstler malten ihm Schwänze ins Gesicht. Für viele war er der erste leibhaftige Ossi. Als wir bei Brehmes Tor kurz aufjubelten, bekamen wir Schimpfe. „Ihr Halbnazis, wie könnt ihr euch an diesem kindischen Spiel erfreuen?“ Derweil verwandelten sich im Osten die FDJ-SekretärInnen in überzeugte DemokratInnen, die StaatsbürgerkundelehrerInnen wurden Finanzbeamte. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl kam nach dem Spiel mit einem Pappbecher Cola in die Kabine. Die Spieler sangen „Helmut senk den Steuersatz!“

Keiner ruft mehr nach der Senkung des Steuersatzes

Meine dritte Weltmeisterschaft erlebte ich auf dem Bero-Fußballplatz an der Auguststrasse in Berlin-Mitte. Der Fußball war seit der WM 2006 ein nationales Ereignis. Die BRD mutierte im Fansprech zu Schland.  Hunderttausende sahen seither auf sogenannten Fanmeilen gemeinsam die Spiele und erlebten einen kollektiven Rausch. Gewisse menschliche Bedürfnisse verursachen bisweilen Schmerzen.

Der Fußball war 2014 fest in der Mitte der Gesellschaft verankert. Die mediale Öffentlichkeit nahm alle aneinander gereihten Worthülsen der deutschen Fußballspieler sehr ernst und sehr wörtlich. Augstein Junior & Co erkannten die böse Fratze des deutschen Michel, während das alltägliche Schlandvolk feierte und die Sau raus ließ. Die Bundeskanzlerin  Angela Merkel war beim Finale in Rio im Stadion. Nach dem Spiel wollten alle deutschen Kicker unbedingt ein Foto mit sich und der ehemaligen FDJ-Sekretärin und heutigen Kanzlerin. Poldi wie immer der Erste. Rufe nach der Senkung des Steuersatzes wurden nicht laut. 2014 hat jeder Nationalspieler die Taschen voll. Bundespräsident Gauck war ebenfalls anwesend. Ob auch Selfies von Poldi und dem einstigen Pastor entstanden, entzieht sich leider meiner Kenntnis. 

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