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WM 2014: Deutschlands Sehnsucht nach dem WM-Titel

Die deutsche Nationalmannschaft ist jung, bunt, dynamisch - und erfüllt allerhand gesellschaftliche Vorbildfunktionen. Einen Rechtsanspruch auf den WM-Titel hat sie damit nicht. Ein Kommentar.

Innerhalb von zehn Jahren kann sich zwar kein ganzes Land verändern, aber ihre prominenteste Spielgemeinschaft. Vor zehn Jahren spielte eine müde deutsche Nationalelf bei der Europameisterschaft in Portugal einen müden Fußball und scheiterte folgerichtig in der Vorrunde – heute ist Deutschland im Bild seiner wichtigsten Mannschaft: jung, bunt, dynamisch.

Vor vier Jahren, bei der WM in Südafrika, hat sie auf ihre Art das Volk entzückt. Die Nationalmannschaft hat uns einen Spiegel vorgehalten, in dem man nicht sah, wie wir sind. Wir haben gesehen, wie wir auch sein können. Dieses Bild hat uns eigentlich ganz gut gefallen. Die Deutschen waren plötzlich nicht mehr die Panzer, die alles niederwalzen. Die Deutschen waren leichtfüßig, sie waren beschwingt, sie waren – auf sympathische Art – unwiderstehlich.

Wir erleben eine Bewegung zurück zur alten Identität

Dafür, dass uns sogar die anderen ein bisschen geliebt haben, haben wir es erstaunlich gut weggesteckt, schon wieder nicht Weltmeister geworden zu sein. Wird das diesmal auch wieder so sein, wenn die Nationalelf ihre an diesem Montag gegen Portugal beginnende Mission in Brasilien nicht mit dem Weltmeister-Titel beendet? Wenn man die Zeichen richtig deutet, ändert sich schließlich gerade etwas.

Dann erleben wir eine Roll-Back-Bewegung, zurück zur alten Identität: Entscheidend ist, was hinten rauskommt. Dass Deutschland nach Jahren der Dürre über eine Häufung an verheißungsvollen Fußballern verfügt, dass diese Fußballer in ihren besten Momenten schön spielen wie nie – das mag zwar nett sein für den Moment, ist auf Dauer aber auch irgendwie unbefriedigend. Es scheint, als ängstigte uns der Gedanke, die Schönheit des Spiels könnte zum Selbstzweck werden; als fürchteten wir, die neuen Holländer zu werden, die nie etwas gewinnen.

Die Sehnsucht der Deutschen nach dem Titel wird größer

Und es reicht auch nicht mehr, dass die Nationalmannschaft allerhand gesellschaftliche Vorbildfunktionen erfüllt. Dass sie etwa ständig dafür gerühmt wird, mit den Özils und Khediras geradezu ein Musterbeispiel für Integration zu sein. All das ist nun aufgebraucht. Der Anspruch auf den goldenen Pokal ist schließlich in die deutsche Fußball-DNS eingeschrieben, seitdem die Nationalmannschaft 1954, gleichsam aus dem Nichts, zum ersten Mal Weltmeister geworden ist.

Für Joachim Löw, den Bundestrainer, ergibt sich daraus in Brasilien eine, sagen wir, interessante Gemengelage. Die immer größer werdende Qualität seines Kaders fällt mit der immer größer werdenden Sehnsucht der Deutschen nach dem Titel zusammen. Mit Löw als Co- oder Cheftrainer ist die Nationalmannschaft bei jedem Turnier seit dem EM-Debakel 2004 unter die letzten vier gekommen. Das ist eine beachtliche Bilanz. Trotzdem bleibt in Löws Lebenslauf eine große Leerstelle: Es fehlt der Titel. Und so liest und hört man jetzt immer wieder, dass der Bundestrainer endlich einmal liefern müsse.

Verlangt eine nüchternere Zeit einen nüchterneren Fußball?

Wenn man von der Annahme ausgeht, dass jeder große Titel der Nationalmannschaft seine Entsprechung in den gesellschaftlichen Gegebenheiten der Zeit gefunden hat, muss man natürlich auch die Frage stellen: Was sagt unsere aktuelle Haltung zur Nationalmannschaft über die aktuellen Zustände in unserem Land? Interessieren uns die anderen nicht mehr, weil wir uns gerade selbst genug sind? Verlangt eine nüchterne Zeit einfach einen nüchternen Fußball? Ist der Ertrag wichtiger als die Idee, selbst in einem Unterhaltungsbetrieb, der der Fußball längst ist? Und kann man das alles auch ins Politische verlängern?

Joachim Löw hat zuletzt mehr und mehr den Eindruck gewonnen, dass sich im Volk die Meinung breit macht, Deutschland sei nach 18 Jahren ohne Titel einfach mal wieder dran. „Damit kann ich nichts anfangen“, sagt er. Es entspricht in der Tat nicht dem Wesen des Sports. Der Wettkampf entscheidet, nicht die Zahl der Wartesemester. Deutschland besitzt keinen Rechtsanspruch auf den Titel – alles andere wäre anmaßend.

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