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Da hat man schon so dicke Oberschenkel, und dann kommt man trotzdem zu spät. Hans-Peter Briegel kann den Siegtreffer Jorge Burruchagas nicht mehr verhindern.

© dpa

WM 2014 - Die Geschichte zu Deutschland - Argentinien: „Toni, halt den Ball!“

Diego Maradona, Toni Schumacher, Karl-Heinz Rummenigge und das Leid eines Fußballfans: Wie das WM-Finale 1986 einen Fan prägte - mit dem Spiel Deutschland vs. Argentinien.

Als ich Fußballfan wurde, war ich neun Jahre alt. Zuvor war ich nichts als ein Schwärmer. Einer, der kein Leiden kannte, der nicht wusste, was es heißt, wieder aufzustehen, weil er niemals unten war. 1984 fand ich Olaf Thon super, weil er die selben Jeans trug wie ich (Paddock's), doch schon eine Woche später war Matthias Herget mein Held, denn seine Rückennummer (5) war auch mir in der örtlichen F-Jugend durch Losverfahren zugefallen. Matthias Herget umwehte zudem etwas Geheimnisvolles, er lief stockartig, zugleich aber geschmeidig und souverän. Ein Schlangenmensch gefangen in harten Baumrinden.

Wenn fortan Freunde meines Vaters zum Skat in unserem Wohnzimmer saßen und mich fragten, für welchen Fußballverein mein Herz schlage, antwortete ich also siegesgewiss: „Bayer Uerdingen.“ Bayer Uerdingen, dort, wo sich Anfang der Achtziger drei Rentnergruppen und acht Hunde hinverirrten. Mein Vater versuchte seinen grummelnden Hamburger Skatjungs plausibel zu erklären, dass mein in Hamburg sehr exklusives Fandasein mit der Herkunft meiner Mutter (Krefeld) zusammenhänge, natürlich aber wolle er mich bald mal zu einem richtigen Verein (HSV, FC St. Pauli, Altona 93) mitnehmen. Besser machte es die Sache nicht.

Michel Platini, Panini und Opa

An einem Wochenende im Frühjahr 1984 stellte ich den Rekord im Halswenden ein: Freitagabend noch Altona-Fan, Samstag schon glühender HSV-Verehrer und am Sonntag, bei einem Nieselregenkick zwischen 2000 Lederjackentypen, plötzlich St. Pauli-Anhänger. Immerhin konnte ich mich nicht für den Gegner begeistern. Vielleicht weil ich erkannte, dass dieser (Fortuna Köln) noch weniger Fans hatte als Bayer Uerdingen.

Keine "Hand Gottes": Diego Maradona und Karl-Heinz Rummenigge bei der Begrüßung vor dem Anstoß des WM-Endspiels 1986.
Keine "Hand Gottes": Diego Maradona und Karl-Heinz Rummenigge bei der Begrüßung vor dem Anstoß des WM-Endspiels 1986.

© imago

Dann kam die WM 1986 – mein erstes bewusst erlebtes Turnier. Zwar hatte ich schon zwei Jahre zuvor, während die EM in Frankreich stattfand, vornehmlich in einem Frankreich-Trikot mit Michel-Platini-Aufdruck geschlafen, doch wer dieser Platini war und warum er die 10 trug, verstand ich nicht. Ich mochte den Stoff. Synthetik auf meiner Haut.

1986 wurde alles anders. Bis dahin hatte Opa mir bei seinen wöchentlichen Besuchen vornehmlich Kinder-Bibeln oder Gesangsbücher aus der Kirche (für Kinder) mitgebracht. Nun stand er in der Tür, hatte ein Panini-Album unter dem Arm, dazu etwa 200 bis 300 Tüten und ein Lächeln im Gesicht. Er erklärte: „In zwei Wochen fängt die Weltmeisterschaft an!“ Das klang großartig – und fühlte sich noch besser an als Synthetik auf der Haut. Ich fing an zu kleben. Und zunächst ging alles weiter wie bisher, die verehrten Stars gaben sich im Fünf-Minuten-Takt vor meinem imaginären Schrein die Klinke in die Hand. Da dachte ich, in der einen Tüte meinen wirklichen Helden gefunden zu haben (Tigana), fand ich in der nächsten Tüte einen anderen (Scifo), der zwei Risse später noch übertrumpft wurde (Socrates).

1986: Dänemark unschlagbar, Deutschland bieder

Mein Opa (Rentner) saß mir zumeist gegenüber im Sessel, rauchte Pfeife, las ein Buch oder die Bibel, nickte zu diesem Namen, grummelte etwas zu jenem. Paff. Während er sprach, roch es nach Lebkuchen und Tannenzweigen, im Juni, und der Geruch der Pfeife war wohltuend. Gelegentlich referierte Opa in dieser sommerlichen Weihnachtsatmosphäre kurz über die Spieler. Als ich etwa das Maradona-Bild aus der Tüte zog, legte er geschwind Bücher und Pfeife zur Seite und hielt einen Monolog über die Kunst des Stürmens, über die Villas in Buenos Aires, über den kleinen Jungen, der vor einiger Zeit bei Boca Juniors, dann bei Barcelona und nun in Neapel spielte. Buenos Aires, Barcelona, Neapel. Ich kannte die Ostsee, die Wingst, auch die Algarve in Portugal, doch klang diese nach drei Jahren Urlaub in Folge mittlerweile auch wie ein Kurort bei Scharbeutz. Maradona – schon der Name hatte das Antlitz von Welt und Ferne, von Unterwegs und Zauberei.

Als das Turnier begann, fieberte ich mit der UdSSR, mit Belgien und Uruguay, und nach Dänemarks 2:0-Sieg über Deutschland nahm ich an, die Dänen seien unschlagbar, die beste Mannschaft der Welt. Deutschlands Fußball war hingegen bieder, die Mannschaft ächzte sich über die Runden. Während jedes Spiels: Ächz. Schon die Gesichter der Spieler sahen im Zweikampf und während sie grätschten und selbst an spielfreien Tagen auf der Terrasse unter den 1000 Sonnen von Mexiko so aus: Ächz!

Felix Magath, Hans-Peter Briegel, Andi Brehme, Dieter Hoeneß, Ditmar Jakobs: Gesichter von 100-jährigen Druiden. Körper von Bergarbeitern unter Tage. Im Gegensatz dazu die Elf Argentiniens, Burruchaga, Valdano, natürlich Maradona. Sein Jahrhunderttor, dann die beiden Treffer gegen Belgien. Maradona, dieses kleine unverstehbare Wiesel. Jeder Blick wie ein Manifest, jede Geste wie ein Aufbruch, jede Bewegung wie ein eleganter, doch unbändiger Tanz aus dem fernen Land.

Nie war das Azteken-Stadion näher

Der Fernseher flimmerte. Die Hitze flimmerte. Durch den Fernseher auf meine Haut. Das Azteken-Stadion war nie mehr so nah. Die deutschen Spieler sahen schon vor dem Anstoß abgekämpft aus wie Marathonläufer vor ihren letzten Metern. Beckenbauer versuchte den Sonnen mit seiner karierten Leinenhose und dem sehr offenen sandfarbenen Oberhemd Herr zu werden. Sie würden verlieren, die Deutschen, denn sie waren so deplatziert wie Buchhalter bei einer Revolution. Ich war mir ziemlich sicher.

Doch als Schumacher die Flanke unterlief und Brown einköpfte, jubelte ich nicht laut, denn ich wusste, Opa und Papa würden es mir übel nehmen, auch wenn sie ständig darauf hinwiesen, nur ein gutes Fußballspiel sehen zu wollen. Dann das 2:0, unser Wohnzimmer flimmerte weiter. Maradona war bis dahin nicht zu sehen. 2:1, Rummenigge hatte den Anschlusstreffer markiert.

Rummenigge, den ich nicht mochte, denn der lief auch höchst seltsam, dabei aber niemals so geheimnisvoll wie Matthias Herget, eher grob, im Sprint fast steif. 2:2, Rudi Völler glich tatsächlich aus – und Rolf Kramer, der ZDF-Reporter, der sich stets sehr zurückhielt, der stets Sorge hatte, zu parteiisch zu kommentieren, schrie nun in einem kurzen Anfall von Euphorie: „Ist das denn die Möglichkeit? Sie schlagen sie da, wo sie unschlagbar schienen.“

Burruchagas Tor, Leiden mit den Deutschen - großartiges Gefühl

Drei Minuten später. Maradona drehte sich, alles ging rasend schnell, es fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit, der Pass, steil auf Burruchaga, kein Abseits, nur noch wenige Meter. „Toni!“, flehte Rolf Kramer, während Hans-Peter Briegel, der Leichtathlet, der mit den heruntergelassenen Stutzen, in Riesenschritten von der Seite heran eilte, nur noch ein paar Meter, eine Grätsche, jetzt. „Toni! Halt den Ball!“

Ein letztes Mal legte sich Jorge Burruchaga den Ball vor. Briegel verlangsamte. Schuss.

„Nein!“

Rolf Kramer war alleine. Briegel alleine. Toni alleine. Beckenbauer, Matthäus, Rummenigge, Völler, alle alleine.

„Nein!“ Briegel am Boden. „Nein!“

Opa schlug die Bibel auf, stopfte die Pfeife. Papa machte irgendwas. Niemand sagte ein Wort. „Nein!“ Nie wurde ein Gegentor nüchterner beschrieben. Nie wieder wurde es so wahrhaftig beschrieben. „Nein!“ Ich jubelte nicht mit Maradona, nicht mit Burruchaga, mit den Helden der Panini-Tüten, diesen Artisten. Ich litt. Auf einmal litt ich mit den Deutschen. Das erste Leiden im Fußball. Und es fühlte sich großartig an. Trotz der Tränen der Spieler, trotz des Entsetzens in Briegels Gesicht. In dieser Sekunde wollte ich sie alle umarmen, all diese seltsamen Typen, diese druidenartigen, kantigen Kerle. Fußball war Ächzen. Hier und jetzt. Ganz unten, geschlagen.

In diesen Sekunden war die Schwärmerei vorbei. Endgültig. Ich wurde Fußballfan.

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