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Charité-Kampagne: Schweigen ist kein Gold

Sie werden geschlagen und zwangsverheiratet: Junge Frauen in türkischen Migrantenfamilien bringen sich fast doppelt so häufig um wie gleichaltrige Deutsche. Die Betroffenen sind komplett mit ihren Problemen alleine. Ab morgen wendet sich die Charité an sie mit der Kampagne „Beende Dein Schweigen“.

Hübsch und sympathisch sieht Ayse Öztürk (Name geändert) aus. Mit leichtem Sommerpulli, hellen Haaren und fast akzentfreiem Deutsch ist die 53-Jährige als Türkin nicht sofort zu erkennen. Noch weniger bemerkt man, dass sich hinter ihren freundlichen Augen eine große Angst verbirgt. Nur die unruhigen Hände, das fast unsichtbare Zittern der Mundwinkel lassen ahnen, unter welcher Spannung die Frau steht.

„Eben ging es schon wieder los, ich wollte nur weg“, sagt Öztürk. Plötzlich waren sie wieder da: Herzrasen, Atemnot, Schwärze im Kopf. So schlimm waren die Panikattacken der letzten zwanzig Jahre, dass Öztürk schon mehrfach versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Dann kam sie in Kliniken, wurde „zur Kur“ geschickt, mit Medikamenten aufgepäppelt, sodass sie weitermachen konnte mit ihrem Leben als Verkäuferin, Hausfrau und zweifache Mutter. Mit der Normalität – irgendwie. Öztürks Mann versteht die Probleme seiner Frau nicht. Depressionen, Suizidgedanken? Das seien doch Spinnereien. Früher hat er seine Frau wegen dieser „Spinnereien“ erniedrigt und beschimpft. Sie solle sich einfach nicht so anstellen. „Heute zeigt er ein bisschen mehr Verständnis“, sagt Öztürk leise. Nur reden über ihre Gefühle könne sie nach wie vor nicht mit ihm. Und dass sie tatsächlich professionelle Hilfe brauchen könnte, findet ihr Mann noch immer lächerlich.

„Diese Einstellung gibt es leider häufig in Migrantenfamilien. Die Betroffenen sind komplett mit ihren Problemen allein“, sagt Meryam Schouler-Ocak. Die 48-jährige geborene Türkin ist Oberärztin der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité und leitet eine aktuelle Studie der Klinik über „Suizidraten und Suizidprävention bei Berliner Frauen mit türkischem Hintergrund“. Außerdem hat Schouler-Ocak die Charité-Kampagne „Beende Dein Schweigen“ mitentwickelt, die morgen beginnt und vor allem eine Hotline anbietet, unter der betroffene Frauen und Mädchen Informationen und Hilfe erhalten.

„Natürlich können Depressionen, die in Suizidversuchen enden, jeden Menschen treffen. Mehrere Untersuchungen zeigen jedoch, dass junge Frauen mit türkischem Migrationshintergrund sich fast doppelt so häufig das Leben nehmen wie gleichaltrige Deutsche“, sagt Schouler-Ocak. Mutmaßlich hänge das neben Armut, Einsamkeit, Bildungsschwierigkeiten und Arbeitslosigkeit häufig mit Konflikten aufgrund divergierender kultureller Wertvorstellungen zusammen. Ein Teil von Öztürks seelischen Nöten liegt darin begründet, dass die im türkischen Elternhaus erlebten strengen Grundsätze mit dem Wunsch nach persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung kollidierten. Öztürks Eltern zogen in den 60er Jahren von Istanbul in ein kleines westdeutsches Dorf. Als Ayse 14 Jahre alt war, holten sie das Mädchen nach, drei Jahre später zog die Familie nach West-Berlin. „Es war eine Zeit voller Verbote. Ich durfte nicht weggehen wie meine Freundinnen. Als meine Mutter herausbekam, dass ich einen deutschen Freund hatte, war es sofort aus mit der Beziehung“, erzählt sie. Als sie den deutschen Pass beantragen will, um sich ihren Herzenswunsch zu erfüllen und Polizistin zu werden, schreien ihre Eltern: „Wir sind Türken, keine Deutsche!“

Der Erziehungsstil der Mutter ist hart und diktatorisch, oft schlägt sie Ayse und ihre jüngere Schwester. Als die beiden noch klein sind, wäscht sie die Kinder jeden Abend in einer Badewanne mit brühend heißem Wasser und kneift ihnen mit den Nägeln ins brennende Fleisch. Damals waren die Motive für solche Grausamkeiten den Kindern verschlossen, heute glaubt Öztürk den Grund zu wissen. „Meine Mutter wurde gezwungen, meinen Vater zu heiraten, obwohl sie einen anderen geliebt hat. Dafür hat sie sich ihr Leben lang an uns gerächt“, sagt Öztürk. Auch sie hat einen Mann geheiratet, den sie nicht liebt, der zehn Jahre älter ist als sie und mit dem sie ihre Sehnsüchte und Ängste nie teilen konnte. Doch allein, weil ihre Mutter ihn nicht akzeptiert, nimmt sie ihn. Um die Mutter zu verletzten. „Dass ich damit am meisten mir selbst schade, habe ich zu spät gemerkt“, sagt Öztürk und senkt den Kopf, um die Tränen zu verbergen.

Ehen zwischen verwandten Familien, häufig zwischen Cousin und Cousine, haben zur Stärkung des Familienverbandes in türkischen und arabischen Ländern eine lange Tradition. Die Verheiratung wird von den Betroffenen womöglich innerpsychisch als Zwang, zugleich aber als ein naturgegebenes Schicksal – türkisch „Kader“ – erlebt, gegen das man nicht ankämpft. Ähnlich ist es mit der Option auf Scheidung. Einmal verheiratet, bleibt man es für den Rest des Lebens. Vor allem jüngere Frauen, die im Westen groß geworden sind, wehren sich jedoch gegen das „Kader“, manche von ihnen sind erst 13 oder 14 Jahre alt. Denn je früher die Verheiratung geschieht, umso sicherer ist es um die Jungfräulichkeit des Mädchens und damit die Ehre der Familie bestellt.

Bei der Berliner Kriseneinrichtung Papatya suchen im Jahr rund 70 von familiärer Gewalt und Zwangsehe bedrohte Mädchen Zuflucht und Schutz. Sie haben eine lange Leidensgeschichte hinter sich, viele auch einen oder mehrere Suizidversuche. Mehrere Monate können die überwiegend türkischen, kurdischen und arabischen jungen Frauen unter geheimer Adresse wohnen und zur Ruhe kommen, um mithilfe von Sozialpädagoginnen und einer Psychologin Entscheidungen zu treffen – für ein komplett neues Leben oder den Versuch, mit der eigenen Familie zu einer lebbaren Lösung zu kommen.

Zu erkennen sind solche schweren Konflikte von außen in der Regel kaum. „Nur weil eine junge Frau geschminkt ist und sich kleidet wie die anderen, bedeutet das nicht, dass sie zu Hause nicht unterdrückt oder geschlagen werden kann, oder dass sie das Recht hat, zu einer Entscheidung Nein zu sagen“, sagt eine Mitarbeiterin von Papatya. Öztürks erwachsene Kinder, ein Sohn und eine Tochter, hatten dieses Recht immer. Sie durften stets lieben, wen sie wollen, und die Ausbildung machen, die ihnen gefiel. Öztürk, die heute bei einem Kollegen von Schouler-Ocak in Behandlung ist, war trotz ihrer schweren Geschichte innerlich so stark, die Fehler ihrer eigenen Mutter nicht zu wiederholen. „Am meisten freut mich, dass eines meiner Kinder gern zur Polizei wollte“, sagt sie. Ihr Lächeln ist dabei ungetrübt. Und wunderschön.

Weitere Informationen: www.papatya.org. Telefonischer Kontakt über den Jugend- und Mädchennotdienst unter Tel. 61 00 -62 oder -63. Die Hotline der Charité-Kampagne (Tel. 01805/22 77 07) und die Adressen www.beende-dein-schweigen.de und www.suskunlugunasonver.de sind ab 22.6. freigeschaltet.

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