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Am 18. Mai übernahm Kai Wegner den Parteivorsitz, seitdem hetzt der Berliner CDU-Vorsitzende von Termin zu Termin.

© DAVIDS/Sven Darmer

100 Tage als Berliner CDU-Chef: Kai Wegners Kampf gegen seinen Ruf als Hinterzimmerpolitiker

Schon 300 Termine hat Kai Wegner als neuer Chef der Berliner CDU absolviert, er will seine Partei neu aufstellen. Dabei steht gerade er für deren Vergangenheit.

Kai Wegner stochert schon eine ganze Weile mit seiner Gabel auf dem Teller herum, als der Moment kommt, auf den der Termin in der Grundschule an der Wuhlheide zugeschnitten ist. Der 46-Jährige sitzt an einem Tisch inmitten der zur Mensa umfunktionierten Turnhalle, auf seinem Teller baden Kartoffeln in Eierragout mit Erbsen und Möhren. Um ihn herum wuseln Schüler der zweiten Klassen, eine Fernsehkamera filmt die Szene.

Eine Lehrerin fasst sich ein Herz: „Es tut mir leid, Sie müssen jetzt aufstehen, wir brauchen den Platz.“ Wegner reagiert sofort, schließlich soll es um die Kinder gehen. Den Teller in der einen, das Besteck in der anderen Hand, bahnt er sich seinen Weg durch das Getümmel, stellt sich in eine Ecke und verkündet seine Botschaft: Das von Rot-Rot-Grün wenige Tage zuvor eingeführte kostenlose Schulessen sei ja gut gemeint – nur fehlen eben die Plätze, weshalb er jetzt im Stehen essen müsse.

„Gut gemeint ist nicht gut gedacht.“ So stand es schon in der Einladung zum Pressetermin. Denn tatsächlich ist die Situation in der von 630 Kindern besuchten Schule nicht optimal. Sie essen in Intervallen, jeweils 100 Schüler, dreieinhalb Stunden dauert die Essensausgabe auf diese Weise.

Der Subtext des sorgfältig vorbereiteten Termins: Kai Wegner, der am 18. Mai mit 77 Prozent der Stimmen gewählte Landesvorsitzende der Berliner CDU, geht dahin, wo es brennt. Zur Not auch in eine 30 Grad heiße Mensa. In den nun 100 Tagen, seit Wegner die damalige Landeschefin Monika Grütters stürzte, hat er fast 300 Termine absolviert.

Bei all seinen Auftritten, auch beim Schulbesuch in Köpenick, will er zeigen: Die Berliner CDU ist am Leben, sie hat Ziele und Ideen und will mit Blick auf die Abgeordnetenhauswahl 2021 in den Angriffsmodus übergehen.

Die Zeiten, in denen die CDU einer piefigen West-Berliner Männerbastion glich, will Wegner überwinden. Eine „Partei für die gesamte Stadt“ soll sie werden.

„Ich will Rot-Rot-Grün ablösen“

Das Problem: Er selbst mit seiner Vergangenheit und den Umständen seiner Machtübernahme steht für genau diese alte Berliner CDU.

Wegner, 1989 in die Partei eingetreten, seit 2005 Bundestagsabgeordneter für Spandau, will für sein Vorhaben auch die Parteibasis gewinnen. Am vergangenen Donnerstag eröffnet er die erste von zwei bislang geplanten Veranstaltungen unter dem Titel „Denk-Werk-Stadt“. Diese erinnert zwar stark an die bereits in der Vergangenheit eingeführten Regionalkonferenzen, soll aber offensichtlich nicht mehr so heißen.

Betont leger, ohne Krawatte und mit geöffnetem Hemdkragen, schüttelt Wegner Hände, plauscht am Buffet, gibt den Kai. Am Ende seiner kurzen Rede beschwört er die eigene Marschroute: „Ich will Rot-Rot-Grün 2021 ablösen. Diese Koalition gehört abgewählt.“ Seine Zuhörer nicken und klatschen, von den Stühlen erhebt sich niemand.

Die Dynamik Wegners und seine demonstrative Zuversicht sind noch nicht auf die Christdemokraten übergegangen. Und die durch den Sturz von Grütters entstandenen Wunden sind bei einem Teil der Partei längst nicht verheilt.

Die Ausgangslage ist, aus CDU-Sicht, deprimierend und günstig zugleich. Die jüngste Umfrage sieht die Partei in Berlin bei 17 Prozent – es ist der bundesweit zweitschlechteste Wert, nur die Parteifreunde aus Hamburg liegen dahinter.

Doch auch die Unzufriedenheit mit Rot-Rot-Grün ist in Berlin so groß wie noch nie seit 2016. In den zentralen Politikfeldern – Wohnen, Verkehr und Bildung – bleibt der Senat weit hinter den selbstgesteckten Erwartungen zurück. Wegner hatte während seiner Kandidatur immer wieder betont, die CDU müsse lediglich die Elfmeter verwandeln, die Rot-Rot-Grün verursache.

Das Paradoxon: Trotz dürftiger Leistungen verfügt die Koalition weiter über eine bequeme Mehrheit in den Umfragen, steht sogar deutlich besser da als im Wahljahr 2016. Dabei übernehmen Abgeordnete der Regierungsparteien die Aufgabe der Opposition immer öfter gleich mit und stellen die eigenen Partner bloß.

Die Würfel waren längst gefallen

Die Zeiten, in denen innerhalb der Berliner CDU erbittert gekämpft wurde, scheinen hingegen bis auf Weiteres vorbei zu sein. Das liegt auch daran, dass Wegner seine Kandidatur für den Landesvorsitz gut vorbereitet hatte. In Reinickendorf, einem der entscheidenden Bezirksverbände zur Beschaffung einer Mehrheit, glich die Ablösung des dem Grütters-Lager zugehörigen Frank Steffel einem Putsch.

Nach 18 Jahren im Amt wurden Steffel und andere Vertraute vom Reinickendorfer Bezirksbürgermeister Frank Balzer aus dem Amt gedrängt. Wegner, als ehemaliger Landeschef der Jungen Union mit einem guten Draht in die Parteijugend ausgestattet, konnte sich auf deren Unterstützung verlassen.

Und auch in Charlottenburg-Wilmersdorf, Bezirksverband von CDU-Generalsekretär Stefan Evers, kippten die Machtverhältnisse zugunsten Wegners. Sich dieser Tatsache bewusst, erklärte Grütters im März mit stockender Stimme den Verzicht auf ihre Kandidatur, Wegner saß direkt neben ihr. Sie wolle der Partei eine „Zerreißprobe“ ersparen, erklärte Grütters. In Wahrheit waren die Würfel längst gefallen.

Gegen die für eine Modernisierung der Partei und dem Lebensgefühl der Metropole näher stehende Grütters. Und für Wegner, den viele wegen seiner „Hinterzimmerpolitik“ kritisierten.

Wegner wiederum machte sich mit dem Tag seiner Wahl daran, das vielfach kritisierte Manko von Grütters, als Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien zu wenig Zeit für die Landespolitik gehabt zu haben, in sein Gegenteil zu verkehren. Kein Weg zu weit, kein Termin zu spät für den Vater zweier minderjähriger Kinder, die er aktuell nur wenig zu Gesicht bekommt. Die Frage, wie er das eigentlich alles macht, lächelt Wegner weg: Er habe „Spaß“ daran.

Egal ob bei den Einsatzkräften von Polizei und Feuerwehr, im Betriebshof der BVG oder am Rande des Umzugs zum Christopher Street Day – Wegner ist präsent und bemüht sich seinerseits um ein neues, modernes Bild der Berliner CDU. Noch werden die zwölf Kreisverbände jedoch ausschließlich von Männern geführt, in der Abgeordnetenhausfraktion liegt der Frauenanteil bei unter zehn Prozent.

Das zu ändern dürfte ebenso schwer werden wie das Vordringen seiner Partei in die von Rot-Rot-Grün dominierten Innenstadtbezirke. Hier ist die CDU oft nur eine Randerscheinung.

1000 Euro Belohnung

Wegner will, Wegner muss das ändern. Frei von Ideologie, wie er selbst sagt. „Es darf keine Denkverbote geben, wir müssen auch verrückte Ideen diskutieren“, erklärt er bei der „Denk-Werk-Stadt“.

Wie zum Beweis hat er sich wenige Stunden zuvor mit Vertretern des Allgemeinen Deutschen Fahrrad Clubs getroffen, bislang nicht eben erster Ansprechpartner der Christdemokraten. Wegner hat zuletzt mehrfach öffentlich gefordert, Fahrradwege schneller zu bauen und Kreuzungen für Radfahrer sicherer zu machen.

Ein Gespräch mit dem Berliner Fahrgastverband Igeb nutzt Wegner für die Botschaft, künftig werde es gar nicht anders gehen, als Autofahrern in der Stadt Platz wegzunehmen. Aussagen, die in der verkehrspolitisch auf den Kampf gegen Dieselfahrverbote konzentrierten Partei für Aufsehen sorgen dürften. Welche Strategie dahintersteckt, ist unklar: eine rhetorische Anleihe bei den Grünen oder gar vorsichtige Annäherung mit Blick auf Koalitionsoptionen?

Wegner erklärt, die CDU werde im Bereich Verkehr „Positionen überdenken“ müssen, um 2021 erfolgreich zu sein. Im Anschluss lässt sich Wegner, der zugibt, „kein Fan von Straßenbahnen“ zu sein, durch die Werkstatt eines Straßenbahnhofs der BVG führen. Wie immer auf solchen Terminen zeigt er sich als interessierter Zuhörer, stellt Fragen und verzichtet auch nicht auf ein Bild von sich auf dem Fahrersitz.

Schließlich wirft er auch noch einen Blick unter die Bahn – und wird von der BVG auf Twitter dafür als „unter die Räder gekommen“ tituliert.

Zur programmatischen Neujustierung kommen plakative Initiativen in traditionellen CDU-Themenfeldern. Vor drei Wochen lobte Wegner stellvertretend für seine Partei 1000 Euro Belohnung für Hinweise aus, die zur Verurteilung von Autobrandstiftern führen. Bislang blieb die Aktion ohne Resonanz – doch sie garantiert Aufmerksamkeit.

Ein wichtiger Punkt für eine Partei, die im Ruf steht, sich vor allem mit sich selbst zu beschäftigen. Und deren Spitzenvertreter zuletzt immer häufiger zugaben, ein „Vermittlungsproblem“ zu haben.

Hinzu kommt ein durch eigene Fehler und fortgesetzte Indiskretionen angeschlagener Fraktionsvorsitzender Burkhard Dregger. Aktuell sprechen einige in der Fraktion von Resignation und Selbstaufgabe, andere von guter Stimmung und Kampfeslust. Ob und wie lange Wegner noch am Grütters-Vertrauten Dregger festhalten wird, scheint völlig unklar.

Vertrauliche Runden fanden zuletzt ohne den Fraktionschef statt. Die Behauptung steht im Raum, ein Spitzenkandidat Dregger könnte Wegner als Schutzschild dienen, sollte es bei der Abgeordnetenhauswahl 2021 nicht zum Wahlerfolg reichen.

Wegners Gegner beobachten ihn genau

Wegner, der vor seinem Leben als Berufspolitiker eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann absolvierte und später die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit eines Bauunternehmens leitete, erfährt für seinen Fleiß viel Anerkennung. Thomas Heilmann, Kreischef von Steglitz-Zehlendorf und einer der wenigen, der sich mit Namen zitieren lassen will, erklärt: „Kai Wegner läuft eine Art Marathon, das kommt gut in der Partei an.“

Dirk Stettner, stellvertretender Vorsitzender der CDU-Fraktion, ergänzt: „Ich sehe die Partei auf einem Weg, der zu mehr Einigkeit führt.“ Wegner spitze die Themen so zu, „dass sie wahrgenommen werden“.

Doch es gibt auch innerparteiliche Gegner: Sie lancierten die Meldung, Wegner habe eine Sitzung der Bundestagsfraktion Ende Juni geschwänzt, obwohl die Tagesordnung seinen Bericht zum Stand in Sachen Wohngeldstärkungsgesetz vorgesehen hatte – Fraktionschef Ralph Brinkhaus habe gezürnt vor Wut.

Damit konfrontiert, reagiert Wegner äußerlich gelassen und erklärt, er habe sich im Vorfeld der Sitzung erkundigt und die Aussage erhalten, eine Berichterstattung sei nicht vorgesehen. Infolgedessen nahm er an einer Koalitionsrunde zu einem anderen Gesetz teil. Mit einem Brief an alle Fraktionsmitglieder habe er die Sache aus der Welt geschafft. Die Anekdote zeigt: Wegners Gegner beobachten ihn genau und lauern auf Fehler. Viel gegen ihn in der Hand haben sie nicht.

Um das Handeln seiner Partei nahbarer zu machen, will Wegner die CDU zur „Digitalpartei der Stadt“ machen – davon sind die Christdemokraten aktuell Lichtjahre entfernt. Der Twitter-Kanal der Berliner CDU lag nach dem Weggang des Pressesprechers über Monate quasi brach, auf Facebook genehmigte sich die Partei eine mehrwöchige Sommerpause.

Fotos vom Besuch in der Grundschule an der Wuhlheide dagegen landen auf Kai Wegners Profilseiten, mit dem Schulmaskottchen posiert er widerwillig. Die Skulptur – ein blauer Zauberer mit spitzem Hut – erinnert an Harry Potter. Wegner weiß: Er kann noch so viel laufen, reden und werben für die Berliner CDU. Zaubern kann er nicht.

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