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(in der Grafik schraffiert dargestellt).

© Michael Hübner / BILD

Deutsche Teilung in der Biologie: Wo die Westmaus der Ostmaus begegnet

Durch Brandenburg verläuft noch immer eine Grenze. Nur in einem schmalen Streifen treffen sie aufeinander: die Ostmaus und die Westmaus.

Sie waren ein Volk, sie waren Brüder und Schwestern. Sie schliefen zusammen, sie fraßen zusammen. Bis zur großen Teilung. Die einen schauten fortan nach Westen, die anderen nach Osten. So wie die deutsche Nation zerfiel einst auch das große alte Kulturvolk der Hausmäuse, mus musculus, in die Ostmäuse und die Westmäuse, die mus musculus musculus und die mus musculus domesticus.

„Migration gibt es nicht nur beim Menschen“, erläutert Juniorprofessor Emanuel Heitlinger. Mitsamt den daraus erwachsenden kulturellen Unterschieden, könnte er hinzufügen, vor allem den Ost-West-Differenzen.

Emanuel Heitlinger widmet sein noch junges Forscherleben der Frage, wie wieder zusammenwächst, was schon längst nicht mehr zusammengehört, Ostmäuse und Westmäuse.

In quer gestreiftem Pullover, einem textilen Totalverzicht auf professorale Würde, sitzt der Grundlagenforscher zwischen den Bänken im großen leeren Hörsaal des Instituts für Molekulare Parasitologie der Humboldt-Universität Berlin, leicht zurückgelehnt wie jemand, der sich auf eine große Tradition verlassen darf. Rudolf Virchow hat das frühere Pathologische Institut der Tiermedizin auf dem Gelände der Charité errichten lassen. Mag sein, schon dieser Begründer der modernen Medizin hat in diesem Raum vorgetragen, aber mit dem großen Ost-West-Schisma der Hausmäuse hat der Entdecker der Trichineninfektion sich wohl nie befasst. Und mit der Mäuse-Mauer auch nicht.

Der Mauerstreifen ist 20 Kilometer tief

Die Mäuse-Mauer verläuft mitten durch Brandenburg. Sie reicht von der Ostsee bis nach Ostbayern und läuft dann weiter nach Süden. Sie trennt die Ostmäuse von den Westmäusen. Aber Heitlinger würde nie Mäuse-Mauer sagen, und nein, es ist mehr ein Streifen, ein Mauerstreifen eben. Aber dessen Breite übertrifft die kühnsten Planungen der DDR-Grenzsicherung. Er ist 20 Kilometer tief. Jenseits davon gibt es im Osten nur noch die mus musculus musculus und im Westen die mus musculus domesticus. Heitlinger nennt diese innerdeutsche Grenze vorzugsweise die „Hausmaushybridzone“, denn das Großartige ist: Es handelt sich um eine lebende Grenze. Wie die meisten Begegnungen bei Mann und Maus bleibt auch diese nicht folgenlos. Ostmäuse und Westmäuse bekommen Kinder, die Hausmaushybriden, die legitime Bevölkerung der Hausmaushybridzone. Für mehr biologische Diversität! Vermischt euch! Alle Mäuse werden Brüder*innen!

Heitlinger sagt nicht nur „Hausmaushybridzone“, er nennt das Vereinigungsvolk auch „Schadnager“. Trotzdem gilt seine ganze Teilnahme dem wunderbaren Raum, in dem die Schadnager West den Schadnagern Ost begegnen. Vielleicht versteht man die Einzigartigkeit dieses von der Natur selbst veranstalteten Versuchs nur, wenn man weiß, dass es weltweit bloß diese beide Arten gibt, mus musculus musculus und mus musculus domesticus. Und die mus musculus castaneus natürlich, die asiatische Hausmaus, unterbricht der Professor, wobei sein mit leiser Geringschätzung kontaminierter Tonfall verrät, dass er mus musculus castaneus nur der Vollständigkeit halber erwähnt und dass sie nicht weiter in Betracht kommt.

Eine Nicht-Migrantin, eine vormoderne stationäre Lebensform. Alle Hausmäuse kommen ursprünglich aus Asien, wahrscheinlich aus Indien, aber sie ist die einzige, die zu Hause geblieben ist. So weit kann mangelnder Ehrgeiz führen. Andererseits konnte sie die Grundentscheidung ihres Lebens gut begründen: Sie ist eine Hausmaus und keine Wanderratte, ein Haus aber vagabundiert nicht umher, es ist eine Im-mobilie, dadurch wird es definiert, genauso wie die zugehörige Maus.

Vor 500.000 Jahren kam es zur Trennung

Ihre Brüder und Schwestern aber haben es inzwischen um die ganze Welt geschafft. Ohne die Stimme zu heben oder in die Tiefen des Bedeutsamen abzusenken, beantwortet Heitlinger auch die Frage nach dem Zeitpunkt, als die künftigen Westmäuse den werdenden Ostmäusen wohl zum letzten Mal ins Auge sahen und von der indischen Stationär-Maus Abschied nahmen. „Das dürfte so vor 500 000 Jahren gewesen sein“, sagt Heitlinger kühl. Er ist Evolutionsbiologe, Grundlagenforscher, für ihn zählt eine halbe Million Jahre zu den eher überschaubaren Zeiträumen.

Nach 500.000 Jahren begegnen sich die getrennten Brüder und Schwestern wieder und wir dürfen dabei sein! Aber schon vor der ersten Frage ist an Heitlingers Gesichtsausdruck ablesbar, dass etwas nicht stimmt mit den Ost-West-Wiedervereinigungsmäusen, dieser dritten Art, die eigentlich Anlass geben sollte zum Optimismus.

Wenn Evolutionstheoretiker reden, geht es fast immer um Sex, und sie beginnen fast nie mit dem Geschlechtsleben der Blumen, aber Heitlinger macht es. „Nehmen Sie die Gauklerblume“, beginnt er, „in Schottland gibt es Wiesen mit einer wilden Hybridgauklerblume“, die stammt aus der Begegnung zweier Gauklerinnen, die vor langer, langer Zeit eine gemeinsame Vorfahrin hatten, vor zu langer Zeit. „Ich glaube, die blühen zwar noch ...“, sagt Heitlinger, um den Satz dann so abrupt zu beenden wie die Gauklerinnnen ihre Fruchtbarkeit. Oder nehmen wir die Drosophila melanogaster aus der Ordnung der Zweiflügler, besser bekannt als gemeine Fruchtfliege.

Neben der schottischen Gauklerblumenhybridzone gibt es auch eine Fruchtfliegenhybridzone. Auch die Fruchtfliegenhybriden bilden tendenziell eine Sackgasse der Evolution. Heitlingers ernster Forscherblick geht in die kahlen Äste vor den hohen Hörsaalfenstern. „Was die totale Fitness angeht, sind die Hausmaushybriden der Ostmaus und der Westmaus klar unterlegen.“ Hauptfaktor der darwinschen Fitness ist die Fähigkeit, Nachkommen zu zeugen. Und eben das ist nicht die größte Stärke der Hausmaushybriden, die Trennung währte wohl zu lang.

"Je weiter östlich sie leben, desto eher haben sie sich ihre wilde Lebensweise bewahrt"

Auch im Fall der Gattung homo sapiens sapiens haben sich nach dem vierzigjährigen Schisma die Subspecies nur sehr zurückhaltend vermischt, wobei die Männer Ost fast chancenlos waren. Altbundesdeutsche Frauen zogen wohl eher unbewusst Parallelen zur östlichen Hausmaus, von der die Plattform „Planet Wissen“ behauptet: „Je weiter östlich die Tiere leben, desto eher haben sie sich ihre wilde, steppennahe Lebensweise bewahrt.“ Solche Leute will niemand in der eigenen Wohnung haben. Außerdem tendierten Ostmänner zu einer mehr stationären Lebensform, während die jungen Ostfrauen offen zur Migration neigten und gen Westen zogen. Ostfrauen hatten in der Regel keine Probleme, einen Partner zu finden. Was bei den Männern Skepsis erregte, galt bei ihnen tendenziell als Vorteil. Statt „steppennah“ hieß es „natürlich“.

Sag mal piep. Emanuel Heitlinger von der HU forscht in der Hausmaushybridzone.
Sag mal piep. Emanuel Heitlinger von der HU forscht in der Hausmaushybridzone.

© Humboldt Universität

Andererseits scheinen vielen die kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West bis heute als zu groß für einen dauerhaft gemeinsamen Lebensraum, gar unter demselben Dach. Wenn Ostler Latte macchiato trinken, kann es vorkommen, dass sie ihren Löffel ablecken, fiel Kandidaten auf der Er-sucht-sie-Plattform „Elitepartner“ auf, wo sich vorzugsweise Akademiker paaren. „Steppennahe Lebensweise“ der verstörendsten Art. Und dazu die Sprache.

Emanuel Heitlinger will sich zu den kulturellen Unterschieden zwischen mus musculus musculus und mus musculus domesticus nicht äußern. Es ist nicht sein Forschungsgebiet. Ohnehin sagt er nach jedem dritten Satz: „Das muss ich erst noch verifizieren.“ Es klingt so wunderbar gewissenhaft und keinesfalls so steppennah wie: „Das muss ich erst noch googeln!“

Von vorn mausgrau, von hinten mausgrau und von oben und unten auch

Aber zum Äußeren kann der Professor einiges sagen. Ostmäuse sind schöner als Westmäuse, aber nein, so würde er das niemals formulieren. Ein wissenschaftliches Urteil ist kein ästhetisches Urteil. Westmäuse neigen zum Monochromatischen. Sie sind grau, näherhin mausgrau. Sie sind von vorn mausgrau, von hinten mausgrau und von oben und unten auch. Ganz anderes die östliche Hausmaus: „Ihre Rücken sind öfter braun, ihre Bäuche deutlich heller, manchmal fast weiß.“ Mausgrau kommt natürlich auch vor. Die westliche Hausmaus ist etwas größer als die östliche Hausmaus. Und der Laie weiß auch warum: Westmäuse bevorzugten schon immer das Leben in der Vollkomfortzone, sie mussten sich nie durchbeißen wie ihre Brüder und Schwestern im Osten.

Von wegen „Migration“. Wer nicht zu Fuß geht, sondern auf Kreuzfahrt mit Vollpension, ist der noch ein Migrant? Aber genau so ließen sich die Westmäuse in den Bäuchen von Schiffen der Mittelmeerbewohner einst einfach übers Meer tragen, nachdem sie ungefähr 10.000 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung Palästina erreicht hatten, 6000 Jahre später Griechenland und noch einmal 3000 Jahre später Spanien. Zumindest sind das die Daten der Erstnachweise. Jeder Hausmausmann hat seinen eigenen Harem; die Mausesöhne müssen auswandern, um ihren eigenen Harem zu errichten. Eine schnelle Fortbewegungsweise ist das nicht, und in Heitlingers Zügen steht kein Anflug von Neid auf das Geschlechtsleben der Mäuseriche. „Die sexuelle Fortpflanzung ist extrem kostspielig fürs Individuum“, erklärt er mit Anteilnahme.

Liegt es am Latte-macchiato-Löffel?

Mit römischen Schiffen erreichten die Westmäuse schließlich auch Britannien; sie müssten also richtiger „Von-Bord-Gehende“ heißen statt Migranten, aber vielleicht haben sie das nicht getan, sondern wurden einfach in Getreidesäcken in dem kleinen Hafen Londinium ausgeschüttet, den man später London nannte. Was aber machten zur gleichen Zeit ihre Brüder und Schwestern, die werdenden Ostmäuse? Sie wanderten nach Nordwesten durch die Steppen, keine Hochkulturen säumten ihren Weg. Wahrscheinlich bereuten sie den Leichtsinn, der sie aus ihrer Heimat weggeführt hatte. Sie waren Hausmäuse, keine Zeltmäuse, keine Steppenmäuse. Sie waren an die Minimalstandards eines zivilisierten Lebens gewöhnt. Umso beachtlicher ist, dass die östliche Hausmaus, quer durch die zentralasiatische Steppe wandernd, Belgien bereits um 4000 v. Christus erreichte. Seitdem begegnen sich beide Hausmäuse mit großer Vorsicht. Liegt es am Latte-macchiato-Löffel?

Die schraffierte Fläche markierte die Zone, in der sich Ost- und Westmäuse begegnen.
Die schraffierte Fläche markierte die Zone, in der sich Ost- und Westmäuse begegnen.

© Tsp/Pieper

Maurice Maeterlinck hatte einst über die Stellung des Menschen im Kosmos geschrieben: „Wir sind allein, völlig allein auf diesem Planeten. Von all den Lebensformen um uns herum hat sich außer dem Hund keine auf ein Bündnis mit uns eingelassen.“ Das ist falsch, weiß Emanuel Heitlinger: „Mäuse haben sich selbst domestiziert.“ Denn sie teilen mit uns die gleichen Grundbedürfnisse: Sie mögen es warm und trocken und setzen sich gern an den gedeckten Tisch.

Wahrscheinlich steht der Mensch unter Hausmäusen im Gegensatz zur Katze nicht im Ruf überragender Intelligenz. Wobei die Maus dem Menschen viel näher ist als etwa die Katze, wäre unsere Sprache sonst auf Wendungen verfallen wie „Das Schiff ging unter mit Mann und Maus“? Auffällig ist, dass es sich nie um wirklich freudvolle Anlässe handelt, wenn diese Schicksalsgemeinschaft betont wird.

Kehret um!, ruft sie von ihrem Felsen in der Nordsee

Es wäre unredlich, an dieser Stelle zu verschweigen, dass es in Deutschland noch eine Unterart der Hausmaus gibt, die Kassandra unter den Hausmäusen, das ist die mus musculus helgolandicus.

Die Helgoländer Hausmaus hält den Menschen kurz gesagt für einen Irrtum. Kehret um!, ruft sie von ihrem Felsen in der Nordsee. Ihr Verbreitungsgebiet zählt, wie ihr Name andeutet, nicht zu den größten. Ein Quadratkilometer. Ursprünglich lebte auch sie ein ganz normales Hausmausleben und man mag sich den Tag vor ungefähr 9000 Jahren nicht vorstellen, an dem sie von ihrem Felsen herunterspähte, und ringsum war nichts mehr als Wasser. Die letzten Menschen verließen den Stein im Meer mit Booten, die Mäuse aber blieben zurück. Niemand heizte, niemand säte, niemand erntete, niemand deckte den Tisch. Und die kleine Hausmaus beschloss, den Evolutionsbiologen auf ihre Weise zu zeigen, was das ist, the survival of the fittest. So wurde die Indoor-Maus zur Outdoor-Maus. Statt wie die beiden anderen um die ganze Welt zu wandern – mus musculus musculus – oder zu fahren – mus musculus domesticus –, migrierte sie von Küste zu Küste, ein paar hundert Meter in jede Richtung. Mit Interesse betrachtete sie irgendwann die zurückkehrenden Menschen, aber nie wieder zog sie bei ihnen ein. Und wenn heute ihre weltläufigen Brüder und Schwestern aus dem Westen und Osten auf der Insel ankommen, verweigern sie gewöhnlich jede intimere Bekanntschaft. Was hat sie noch mit diesen Latte-macchiato-Trinkern zu schaffen? Man sieht ja, was aus ihnen geworden ist: Labormäuse. Knock-out-Mäuse.

Mann und Maus. So groß sind die Unterschiede nicht

Obwohl das nicht ganz korrekt ist. Nur aus den Westmäusen wurden Labormäuse und Knock-out-Mäuse. Emanuel Heitlinger fasst diese zwiespältige Karriere in den bündigen Satz: „Alles wird an der Maus erforscht.“ 2002 sequenzierten Forscher zum ersten Mal das vollständige Genom einer Labormaus. Wie das menschliche enthält es etwa drei Milliarden Basenpaare. Mann und Maus. So groß sind die Unterschiede nicht. Wenn man ein Gen entfernt, sieht man am besten, wofür es verantwortlich ist.

Emanuel Heitlinger und seine Kollegen aber erforschen die große Wiedervereinigung der Mäuse seit einer halben Million Jahren. Der schöne Befund: Ost-West-Mäuse sind resistenter gegen Krankheiten, etwa gegen Durchfall, verursacht durch Parasiten.

Natürlich ist das Mäusefangen nicht einfach. Wenn Heitlinger mit seinen Kollegen bei brandenburgischen Mitbürgern vor der Tür steht, sich als Grundlagenforscher vorstellt und sagt, dass er gern reinkommen möchte, um bei ihnen Mäuse zu fangen, Hybridmäuse, Ost-West-Wiedervereinigungsmäuse gewissermaßen, steht er manchmal ganz schnell wieder auf der Straße: „Ihr Strolche! Wir haben keine Mäuse, und Hybridmäuse schon gar nicht.“ Noch schwerer als in Brandenburg ist das Mäusefangen nur in Franken.

In Berlin wäre das alles gewiss leichter. Aber in Berlin gibt es keine Hybridmäuse, hier gibt es nur Westmäuse. Die Hausmaus-Hybridzone macht irgendwann einen Bogen, und diese Delle ist Berlin. Auch in Ostberlin gab es schon zu Ostzeiten nur Westmäuse.

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