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Ganz in Schwarz. José Urbach verlor nach 9/11 seinen Job als Buchdesigner. Das Apartment, in dem er seit 1975 lebt, kann er sich kaum noch leisten.

© Lukas Hermsmeier

Juden in New York: Die Armut der Holocaust-Überlebenden

José Urbach ist als Kind dem Naziterror entkommen. Nun kämpft der 75-Jährige um jeden Penny. 60 000 Holocaust-Überlebende wohnen in New York – mehr als die Hälfte von ihnen in Armut.

Er klopft mit seinen Knöcheln auf den weiß gestrichenen Holztisch. Drei Mal. Schnell hintereinander. „Dieses Geräusch. Das ist die erste Erinnerung meines Lebens“, sagt José Urbach und klopft noch einmal. Das Hämmern hörte sich wuchtiger an, damals, im Herbst 1944. Urbach war vier Jahre alt und lag auf einer abgewetzten Matratze voller Flöhe. 49 weitere Kinder waren in der stickigen Baracke des Zwangsarbeitslagers im polnischen Deblin untergebracht. Es war nachts und der Junge konnte nicht schlafen. „Am nächsten Tag haben wir herausgefunden, was dieses Geräusch war: Die Nazis haben im Nebenraum einen Galgen errichtet. Dort wurde ein junger Mann, der ein Stück Seife gestohlen hatte, dann vor unseren Augen gehängt“, sagt Urbach.

Der 75 Jahre alte Urbach sitzt in der Küche seines Apartments in Downtown Manhattan, die Beine übereinandergeschlagen. Vor ihm steht ein Glas Wasser, von dem er während des dreistündigen Gespräches keinen Schluck trinken wird. Urbach spricht Englisch mit spanischem Akzent, er hat eine hohe Stimme und wirkt konzentriert. Man hat das seltsame Gefühl, als wäre er zu konzentriert, um Emotionen zu zeigen.

José Urbach hat den Holocaust „wie durch ein Wunder“ überlebt. Nach dem Kriegsende wanderte er mit seiner Mutter erst nach Kolumbien aus und zog später von dort nach New York, um als Künstler und Buchdesigner für einen Verlag zu arbeiten. Heute kämpft Urbach wieder. Nicht wie damals um sein Leben, sondern um ein erträgliches Dasein. „Es ist nicht einfach. Es ist mühsam. Ich will mir nicht dauernd Gedanken um Geld machen müssen.“ Das Schicksal von José Urbach teilen Holocaust-Überlebende auf der ganzen Welt. Sie leben in Armut, sind von staatlicher und privater Unterstützung abhängig und haben trotz der Hilfe große finanzielle Probleme.

„Es war windig und die Leiche ist hin- und hergeschwankt.“

José Urbach spricht weiter. Vom Galgen in Deblin, von den Erinnerungen, die ein Leben lang bleiben. „Zwei Wochen hing der Mann damals am Galgen. Sein Vater stand jeden Tag regungslos davor und hat zu seinem Sohn hochgeschaut“, erzählt Urbach. „Es war windig und die Leiche ist hin- und hergeschwankt. Wie eine Puppe.“

70 Jahre ist das jetzt her, doch manche Geschichten zerlegt Urbach bis ins kleinste Detail. Vom Zerfall der Leichen, vom Verstecken vor den SS-Offizieren zwischen den Betten, von der Typhus-Epidemie, von den zwei bunten Bonbons zum fünften Geburtstag, von den stillen Tränen seiner Mutter, vom letzten, ängstlichen Blick seines Vaters. Alles weit weg vom Leben in  New York und den Sorgen der Gegenwart. Aber lässt sich das eine vom anderen trennen? Oder sind wir so sehr mit der Aufarbeitung der Geschichte beschäftigt, dass wir das gegenwärtige Leid der Opfer ignorieren?

Nach Angaben der der Nonprofit-Organisation „Selfhelp“ leben mehr als die Hälfte der rund 60 000 Holocaust-Überlebenden in der Metropolregion New York unter der offiziellen Armutsgrenze. „Es ist wirklich nicht zu akzeptieren, dass diese Menschen, die in ihrer Jugend so schmerzlich litten, ihre letzten Jahre in Armut und Isolation verbringen“, sagte Stuart Eizenstat, der Berater des US-Außenministers John Kerry, vor einigen Wochen bei der „Living in Dignity Conference“ in Prag.

Leben in Würde

Die Konferenz wird vom European Shoah Legacy Institute organisiert. Mit dem Ziel, auf die existenziellen Sorgen der Holocaust-Überlebenden aufmerksam zu machen. Versagt hier das kollektive Gedächtnis?

Ein Leben in Würde in New York, einer der teuersten Städte der Welt, ist für José Urbach nur schwer möglich. Es ist schwül in seinem Apartment, dabei hat der drückende New Yorker Sommer noch gar nicht begonnen. Vierter Stock, die Ziegelwände sind unverputzt, die Wall Street nur ein paar Blocks entfernt. Im Wohnzimmer und in der Küche sind drei kleine Ventilatoren verteilt, die gegen die Hitze, draußen sind es 30 Grad, ankämpfen. Sie wehen nicht mehr als Lüftchen heran. „Wir können uns keine richtige Klimaanlage leisten“, sagt Urbach. Das Provisorium als Dauerzustand, auch in diesem Jahr.

Dass er dringend mal neue Kleidung bräuchte, kann der schmächtige Mann besser verkraften. Urbach trägt ein schwarzes Longsleeve, eine schwarze Hose und schwarze Lederschuhe. „Es sind die einzigen Klamotten, die ich seit zehn Jahren trage“, sagt Urbach, der seine weißen, dünnen Haaren zum Mittelscheitel gekämmt hat. Komplett in Schwarz, wie so viele Künstler. Auch im Supermarkt müssen er und seine Frau penibel auf die Preise achten. „Und wenn etwas in der Wohnung kaputtgeht, können wir es oft nicht ersetzen.“

"Sie waren nach Größe sortiert"

Seinen eigenen Vater sah Urbach das letzte Mal am 15. Januar 1945. Rund 300 Männer wurden an diesem Tag aus dem Arbeitslager in Czestochowa ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. „Sie standen dort in einer Reihe, mit ihren gestreiften Anzügen, und waren nach Größe sortiert. Mein Vater ganz hinten“, sagt Urbach. Aus der Baracke heraus beobachteten die Frauen und Kinder die Deportation. Hundegebell, Taschenlampengeflacker. „Unterhalb des Fensters war ein kleiner Schlitz in der Holzwand, durch den ich nach draußen geschaut habe. Mein Vater drehte sich um, schaute kurz in die Richtung, weil er wusste, dass wir dort stehen. Dann hat ihm ein Offizier mit dem Maschinengewehr in den Rücken geschlagen. Dann war er weg.“

Vier Monate nach diesem Stoß mit dem Gewehr starb der Vater, als er bei einem weiteren Transport im Zug von einer Bombe der britischen Luftwaffe getroffen wurde. Er war 35 Jahre alt. Urbachs Großeltern waren bereits drei Jahre zuvor im Vernichtungslager Sobibor ermordet worden.

José Urbach und seine Mutter, eine Geschäftsfrau, lebten nach Kriegsende zwei Jahre in Lodz, bevor sie seiner Tante nach Kolumbien folgten. In Bogotá wurde aus Yushek José. Er lernte Spanisch, fing an zu zeichnen, studierte erst Architektur, dann Wirtschaftslehre, lernte seine spätere Frau Marina kennen und stellte seine Werke in ersten Ausstellungen aus. 1968 zog das Paar nach New York City, wo José Urbach ein Stipendium bekommen hatte. 1975 unterschrieben sie den Vertrag für das Apartment, in dem sie bis heute wohnen. Miete damals: rund 300 Dollar.

„Heute sind es 1200 Dollar und das ist im Vergleich extrem billig, weil unser Vertrag so alt ist. Trotzdem wird es alle zwei Jahre sieben Prozent teurer“, sagt Urbach. Zusammen bekommen seine Frau und er monatlich 1600 Dollar staatliche Rente, die sogenannte Social Security. Privat rentenversichert ist das Paar nicht. Von der Bundesrepublik Deutschland erhält Urbach alle drei Monate 1200 Dollar Wiedergutmachungszahlung. Ob das angemessen ist, will Urbach nicht bewerten. Er ist bescheiden. 71 Milliarden Euro Entschädigung hat Deutschland nach eigenen Angaben für NS-Unrecht insgesamt gezahlt.

Werden die Überlebenden der Schoah vergessen?

Aus Urbachs Küche heraus schaut man durch die Häuserschluchten auf die Spitze des neuen World Trade Centers, das im vergangenen Jahr eröffnet wurde. Als die Flugzeuge im September 2001 in die Zwillingstürme einschlugen, spürte Urbach erst das Vibrieren der Fenster durch die niedrig fliegenden Maschinen. Dann sah er die Explosion und später, wie die Türme in sich zusammenbrachen.

Anfang der 90er hatte er einen Job als Buchdesigner und Projektmanager bei einem Verlag nahe der Wall Street begonnen. „Nach 9/11 ist die Firma in Panik geraten und hat viele Stellen abgebaut“, sagt Urbach. „Sie haben mich gefeuert.“ 62 ist kein dankbares Alter auf dem Arbeitsmarkt. Seine einzige Einnahmequelle sind seither die wenigen Bilder, die er verkauft. „Manchmal passiert monatelang nichts“, sagt Urbach, der nach 9/11 und dem Jobverlust jahrelang unter Albträumen litt.

Ohne den Sohn wäre es noch schwerer

Urbachs Sohn Sebastian betritt die Wohnung. Ein kleiner, durchtrainierter Mann, 33 Jahre alt, der an einer Highschool in Manhattan als Sportlehrer arbeitet und gelegentlich bei seinen Eltern wohnt. „Sebastian unterstützt uns. Er ist wirklich sehr großzügig. Ohne ihn wäre es noch schwerer“, sagt Urbach.

In New York kümmern sich mehrere Organisationen um Holocaust-Überlebende in Armut. An der Spitze steht die UJA Federation, die rund 13.000 Klienten hat, von denen die meisten in Brooklyn leben. Alexandra Roth-Kahn arbeitet seit 2008 für die UJA, seit mehreren Jahren als Managing Director. „Viele Überlebende können nicht ihre Kosten decken, da ihre Renten zu klein sind. Die meisten von ihnen leben nahe der Verzweiflung“, sagt Roth-Kahn. 17 Millionen US-Dollar habe die UJA seit ihrer Gründung 2004 gesammelt. Eine Summe, die sich schnell relativiert, wenn man sie auf die Zahl der Klienten herunterrechnet. Die Stadt förderte bis 2008 ein eigenes Programm zur Unterstützung von Holocaust-Überlebenden. Dann kam die Finanzkrise. „Es ist unsere moralische Verpflichtung, die Schoah-Überlebenden niemals zu vergessen und zu unterstützen“, sagt Roth-Kahn.

Durchschnittlich rund 5000 Dollar fehlen den New Yorker Holocaust-Überlebenden nach Berechnungen der Experten pro Jahr, um in Würde altern zu können. Im Jahr 2025 wird es in New York und Umgebung noch rund 23 000 Holocaust-Überlebende geben. Je älter die Betroffenen, desto größer ist ihr Bedarf an Versorgung. Und desto größer ist auch die Sehnsucht nach sozialen Kontakten, denn etliche leben allein.

Warum vergleichsweise viele Holocaust-Überlebende im Alter in Armut leben, ob in New York, in Israel oder in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, hat mehrere Gründe, sagt Ulrike Jureit, die als Historikerin im Hamburger Institut für Sozialforschung arbeitet. „Viele hatten wahnsinnig große Schwierigkeiten, im fremden Land mit fremder Sprache kulturell und beruflich Fuß zu fassen. Sie waren vor Ort auf sich alleine gestellt und standen in vielen Fällen vor dem Nichts“, sagt Ulrike Jureit.

Wem kann ich trauen? Was traue ich mir selbst zu?

Oft seien sie einige der wenigen in der Familie, manchmal auch die Einzigen gewesen, die den Holocaust überlebten. „Sie wurden aus ihrem Leben gerissen und damit aus ihren familiären und beruflichen Netzwerken. Es war also für sie sehr viel schwerer, Fuß zu fassen“, so Jureit. Zur Arbeit hätten viele Holocaust-Überlebende zudem ein ambivalentes Verhältnis. „Schließlich war die Arbeitskraft oft der einzige Grund, warum sie überlebten. Und nun sollten sie in der Leistungsgesellschaft der 50er, 60er und 70er wieder neu bestehen“, sagt Ulrike Jureit.

Der Großteil von Urbachs Familie wurde im Holocaust ermordet, ihr Besitz wurde ihnen geraubt. Seine Mutter und er verließen Europa ohne Geld. Die Historikerin Jureit, die viele Überlebende interviewte, sagt: „Die psychischen und physischen Spätfolgen hatten auch Auswirkungen auf das Berufsleben. Viele haben sich gefragt: Wem kann ich trauen? Was traue ich mir selbst zu?“ Die Existenzängste und Selbstzweifel seien weitergetragen und vererbt worden.

„Meine Mutter war nie wieder dieselbe. Das habe ich fast jeden Tag gemerkt“, sagt Urbach. Als er ihr damals von seinem Berufswunsch erzählte, erwiderte diese, dass er doch kein Picasso sei. „Es hat mich traurig gemacht. Ich antwortete ihr, dass ich kein Picasso sein will.“

José Urbachs Künstlerdasein brachte keine Millionen. Bereut hat er seine Berufswahl nie. Er schaffte es bis nach New York, seine gewählte Heimat, die er nicht mehr verlassen will, auch wenn es billigere Städte gibt. Er will nicht noch mal gehen müssen.

Dieser Text ist auch in der Jüdischen Allgemeinen Zeitung erschienen.

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